Der Wind pfiff schrill durch die Spieren und das Tauwerk der Takelage, und das Schiff schien völlig außer Kontrolle gefährlich dicht an den gezackten Granitspitzen vorbei zu taumeln und zu bocken, die es ringsum bedrohten. Doch Murchad und sein Rudergänger hielten durch.
Ein Ruf vom Bug her wurde von anderen Matrosen aufgenommen. Fidelma beugte sich über die Reling, um zu sehen, was es gäbe.
Sie schienen geradewegs auf einen mächtigen schwarzen Felsen zuzutreiben, der sich mitten auf ihrem Kurs erhob. Gelblichweißer Schaum strömte an seinen Flanken herab, wenn die Wellen sich an ihm brachen. Große Wogen donnerten über verborgene Riffe hinweg. Es war wie in einem brodelnden Kessel. Einen Moment schloß Fidelma die Augen und glaubte, das Schiff werde von diesem Mahlstrom in Stücke geschlagen. Sie kam fast von den Beinen, als sich das Deck schräg stellte. Sie dachte, sie seien auf die Felsen geraten. Ein Arm legte sich um sie, und Gurvan zischte ihr ins Ohr. »Laß nur nicht die Reling los!«
Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie die Felsen im Wellental an der Seite des Schiffes vorbeischossen. Sie hätte sie mit der ausgestreckten Hand berühren können. Auch der hohe schwarze Felsen flog vorbei, und dann befanden sie sich mit erstaunlicher Plötzlichkeit in ruhigem Wasser.
Von den Männern am Bug kam ein Triumphschrei.
Gurvans grimmiges Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen der Erleichterung.
»Sind wir durch?« fragte ihn Fidelma.
»Durch das Neck sind wir durch«, erwiderte Gur-van ernst. »In der ruhigen See hier können wir nach Süden abdrehen.«
Er rief Wenbrit zu, die Passagiere dürften wieder unter Deck gehen, wenn sie wollten.
Fidelma stand noch da, hielt die Reling umklammert und starrte auf die vorbeigleitenden schwarzen Wogen, als Cian zu ihr trat.
»Wie lange willst du diese Feindseligkeit noch bei-behalten?« begann er herausfordernd. »Ich versuche doch nur, freundlich zu dir zu sein. Schließlich werden wir noch eine Weile auf dem Schiff zusammen sein.«
Mit einem scharfen Atemzug kam Fidelma in die Gegenwart zurück. Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber anders.
»Nach Lage der Dinge, Cian«, sagte sie knapp und wandte sich ihm zu, »habe ich sowieso mit dir zu reden.«
Darauf war Cian offensichtlich nicht vorbereitet. Einen Moment schaute er sie mit blankem Erstaunen an, dann setzte er eine triumphierende Miene auf.
»Na also, ich wußte doch, daß du mal zur Vernunft kommst.«
Fidelma haßte diesen siegessicheren Blick. Die Illusion wollte sie ihm sofort nehmen. Ihr Ton war kalt.
»Murchad hat mich gebeten, eine offizielle Untersuchung des Verschwindens von Schwester Muirgel anzustellen, damit ihn ihre Verwandten nicht wegen Fahrlässigkeit verklagen können. Ich muß dir ein paar Fragen stellen.«
Cians Gesicht zog sich in die Länge. Das war eindeutig nicht die Antwort, die er erwartet hatte.
»Wie ich höre, hast du es übernommen, die Gruppe zu führen.«
Cians Mund wurde hart, und er hob das Kinn.
»Ist jemand anderes besser dafür geeignet?«
»Es steht mir nicht zu, deine Fähigkeiten zu beurteilen, Cian. Ich gehöre deiner Gruppe nicht an. Ich habe das nur gefragt, damit es in meinem Bericht klar wird.«
»Einen Führer muß es geben. Das sage ich schon, seit wir die Abtei verlassen haben.«
»Ich dachte, Schwester Canair war die Leiterin dieser Pilgerfahrt?« fragte sie.
»Canair wurde ...« Er hielt inne und zuckte die Achseln. »Canair ist nicht hier.«
»Warum warst du gestern nacht plötzlich so besorgt um die Sicherheit deiner Gruppe? Was hat dich veranlaßt, beim Morgengrauen nach allen zu sehen? Das war doch wohl nicht deine Aufgabe? Hat dich der Sturm aufgeschreckt?«
»Er hat mich nicht aufgeschreckt.«
Bei dieser glatten Verneinung hob Fidelma leicht die Brauen.
»Ich dachte, die Heftigkeit des Sturms hätte uns alle aufgeschreckt«, meinte sie.
»Du weißt doch, daß ich Krieger bin, oder vielmehr war. Ich bin an Situationen gewöhnt, in denen .«
»Also hast du den Sturm verschlafen?« unterbrach ihn Fidelma.
»Nicht völlig, aber .«
»Also wurdest du doch aufgeschreckt wie wir anderen auch?« Schadenfroh stellte Fidelma das klar. »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Warum meintest du, du müßtest nach allen Mitgliedern deiner Gruppe sehen?«
»Wie ich schon sagte, irgend jemand mußte die Leitung übernehmen. Schwester Muirgel war dazu sichtlich nicht in der Lage.«
»Also wolltest du nur deinen Anspruch auf die Führung beweisen?«
Cian sah sie finster an.
»Ich wollte einfach sichergehen, daß niemand Probleme hatte.«
»Deswegen hast du dich zum Hüter ernannt und nach allen gesehen?«
»Wie sich herausstellte, war das auch gut so.«
»Es war also jeder sicher in seiner Kajüte, mit Ausnahme von Schwester Muirgel?«
»Da du es so genau nimmst«, höhnte er, »nein, es war nicht jeder in seiner Kajüte.«
»Kannst du das erläutern?«
»Als ich aufwachte, lag Bruder Bairne, mit dem ich eine Kajüte teile, nicht in seiner Koje. Später erfuhr ich, daß er auf dem Abort war.«
»Aha. War sonst noch jemand außer Muirgel nicht in seiner Kajüte?«
»Nein.«
»Wann hast du entdeckt, daß Muirgel fehlte?«
»Beinahe sofort. Wie du weißt, hat sie die Kajüte mir gegenüber. Als ich dort eintrat, war sie nicht da.«
»War ihre Tür verschlossen?«
»Warum sollte sie das sein?« fragte er stirnrunzelnd.
»Unwichtig. Sprich weiter. Was tatest du?«
»Ich verließ die Kajüte und traf im Gang Bruder Bairne, der vom Abort zurückkam. Er ging in unsere Kajüte.«
»Wo gingst du hin?«
»Ich schaute in Schwester Crellas Kajüte. Sie schlief.
Dann schaute ich bei Schwester Ainder und Schwester Gorman nach. Schwester Gorman war schon wach und angekleidet.«
»Hast du dich mit Gorman gestritten?«
Seine Miene wurde verschlossen.
»Weshalb sollte ich mich mit ihr streiten?«
»Schwester Ainder sagt, sie sei davon geweckt worden.«
»Quatsch! Ainder war ärgerlich, weil unsere Stimmen sie im Schlaf gestört hatten. Danach schaute ich in die anderen Kajüten, und jeder war an seinem Platz, mit Ausnahme von Schwester Muirgel.«
»Und dann?«
»Dann sah ich nach, ob bei dir alles in Ordnung war. Du schliefst noch. Da Schwester Muirgel als einzige nicht in ihrer Kajüte war, schaute ich noch auf dem Abort und in der großen Kajüte nach, in der wir essen. Dann traf ich Kapitän Murchad und teilte ihm mit, daß ich Schwester Muirgel nicht finden könne. Er sagte, er werde das Schiff absuchen lassen, und gab dem Bretonen Gurvan den Auftrag dazu. Als bei dieser Suche Muirgel auch nicht an Bord gefunden wurde, schloß Murchad, sie müsse vom Sturm über Bord gerissen worden sein. Er ließ Gurvan noch einmal nachsuchen, und damit bestätigten sich bekanntlich unsere schlimmsten Befürchtungen.«
»Du hast während der Nacht nichts gehört oder gesehen, was dieses Geschehnis erklären könnte?«
»Es ist so, wie ich gesagt habe, Fidelma.«
Sie schwieg nachdenklich.
»Wie gut kanntest du Schwester Muirgel?«
Cian sah sie mißtrauisch an.
»Wenn du etwas über Schwester Muirgel erfahren willst, mußt du Schwester Crella fragen. Sie war ihre beste Freundin und ihre Verwandte.«
»Ich möchte gern feststellen, was du über sie weißt. Du hast mir erzählt, daß du in die Abtei Bangor eingetreten bist. Ich hörte, du seiest häufig in Moville gewesen. Sicher hast du dort Muirgel kennengelernt.«
Cians Mund wurde schmal.
»Ich erledigte Botengänge für den Abt von Bangor und half im Obstgarten.«
»Hast du bei diesen Botengängen Schwester Muirgels Bekanntschaft gemacht?«
»Wie ich mich erinnere, hat Schwester Crella sie mir vorgestellt.«