»Zur gleichen Zeit wie alle anderen«, antwortete er. »Heute morgen.«
»Wann hast du Schwester Muirgel zuletzt gesehen?«
»Als wir an Bord gingen. Ich glaube, sie war seekrank von dem Moment an, als wir zum Schiff hinübergerudert wurden. Nein, das stimmt nicht. Es ging ihr gut, bis wir an Bord kamen. In Abwesenheit von Schwester Canair, die auch sehr freizügig war mit ihren Liebesbeweisen, übernahm Muirgel die Führung und teilte die Kajüten zu. Wir gingen alle in unsere Kajüten, und die meisten von uns blieben unter Deck, bis wir ausliefen. Danach bekam ich sie nicht mehr zu Gesicht, und es hieß, sie sei seekrank. Vielleicht war das eine Warnung, daß die Strafe Gottes bevorstand.«
»Hast du während des Sturms geschlafen?«
»Vorige Nacht? Wie konnte man da schlafen? Das war kein angenehmes Erlebnis. Nach einer Weile habe ich aber etwas Schlaf gefunden, rein aus Erschöpfung.«
»Ich nehme an, Bruder Guss wurde auch gestört?«
»Vermutlich. Du kannst ihn ja fragen.«
»Warst du wach, als er die Kajüte verließ?«
Bruder Tola dachte über die Frage nach.
»Hat er denn die Kajüte verlassen?« stellte er die Gegenfrage.
»Das sagt er.«
»Dann muß es wohl so sein. Ach ja, ich erinnere mich, er ging hinaus. Aber nicht lange.«
»Weißt du, wohin er ging?«
»Ich nehme an, er ging auf den Abort. Wo sonst auf dem Schiff sollte man hingehen?«
Fidelma sah ihn einen Moment fest an, denn sie wußte, daß Bruder Tola gemerkt haben mußte, daß Guss vor Mitternacht Schwester Muirgel aufgesucht hatte. Wollte Tola nur Guss beschützen oder gab es einen anderen Grund, weshalb er versuchte, den jungen Mann zu decken?
Innerlich seufzte sie, denn ihr war klar, daß sie aus Bruder Tola nichts weiter herausbekommen würde. Vorsichtig stand sie auf.
»Einen Punkt möchte ich noch näher erläutert haben«, sagte sie. »Du hältst offensichtlich sehr wenig von Nonnen, die sich verlieben oder Liebesverhältnisse haben. Huren und Dirnen nennst du sie. Aber ich habe noch nicht von dir gehört, daß du auch die Mönche verurteilst, die oft diese jungen Frauen verführen. Meinst du nicht, daß du sehr einseitig urteilst?«
Bruder Tola ließ sich davon in keiner Weise beeindrucken.
»War es nicht eine Frau, die zuerst der Versuchung erlag, von der verbotenen Frucht aß und dann den Mann verführte, weshalb wir alle aus dem Garten Eden vertrieben wurden? Die Frauen sind für alle unsere Leiden verantwortlich. Denke an das, was Paulus an die Korinther schrieb: >Denn ich eifere um euch mit göttlichem Eifer; denn ich habe euch vertraut einem Manne, daß ich eine reine Jungfrau Christo zubrächte. Ich fürchte aber, daß, wie der Böse Eva verführte mit seiner Schlauheit, also auch eure Sinne abgewendet werden von der Einfalt in Christo.<«
»Ich kenne den Abschnitt«, erwiderte Fidelma. »Aber da der Böse in seiner Schlauheit Eva verführte, muß er wohl männlichen Geschlechts gewesen sein. Ich überlasse dich wieder deinen Betrachtungen, Bruder Tola. Vielen Dank, daß du dir die Zeit genommen hast, meine Fragen zu beantworten. Du hast mir sehr geholfen.«
Bruder Tolas Augen zogen sich mißtrauisch zusammen, als Fidelma bewußt den letzten Satz hinzufügte. Sie hatte den leisen Verdacht, daß Bruder Tola nichts ferner lag, als ihr bei der Aufklärung von Schwester Muirgels Verschwinden zu helfen.
Sie wandte sich gerade ab, als ein neuer Ruf vom Mastkorb sie aufblicken ließ.
Da war das rätselhafte Fahrzeug, nun deutlich zu sehen! Sie war so mit Bruder Tola beschäftigt gewesen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie dicht es herangekommen war.
Im Sonnenlicht des Nachmittags konnte sie manche Einzelheiten des sich nähernden Schiffes ausmachen: das niedrige viereckige Segel mit einem Zeichen darauf, etwas wie ein Blitzstrahl, eine Reihe von Rudern, die sich rhythmisch hoben und senkten, und in der Sonne glitzernde Gegenstände an der ihr zugekehrten Seite des Schiffes.
Sie eilte nach hinten zu Murchad, der das Fahrzeug mit finsterem Gesicht beobachtete.
»Bitte geh mit den Pilgern unter Deck, Lady«, begrüßte er sie.
»Was ist das für ein Schiff?«
»Ein angelsächsisches, nach der Bauart zu urteilen. Siehst du den Blitzstrahl auf dem Segel?«
Fidelma nickte kurz.
»Zweifellos Heiden«, fuhr Murchad fort. »Das ist das Symbol ihres Donnergottes Thunor.«
»Haben sie feindliche Absichten?« fragte Fidelma.
»Jedenfalls keine freundlichen«, erwiderte Murchad grimmig. »Siehst du die Reihe von Schilden über den Rudern und wie die Sonne auf ihren Waffen funkelt? Ich nehme an, sie wollen uns zur Prise machen, und wen sie nicht umbringen, der wird als Sklave verkauft.«
Fidelma spürte, wie ihr Mund trocken wurde.
Sie wußte, daß einige der angelsächsischen Königreiche noch immer heidnisch waren, trotz aller Anstrengungen der Missionare aus Eireann und aus Rom. Insbesondere die südlichen Angelsachsen hielten noch an ihren alten Göttern und Göttinnen fest und trotzten selbst den Missionaren aus den angelsächsischen Königreichen des Ostens und Nordens. Sie schluckte heftig, um den trockenen Geschmack loszuwerden.
»Geh nach unten, Lady«, wiederholte Murchad. »Dort bist du sicherer, wenn sie uns entern.«
»Ich bleibe hier und schaue zu«, erwiderte sie entschlossen. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als in der Dunkelheit unter Deck zu hocken und nicht zu wissen, was vorging.
Murchad wollte protestieren, aber als er den entschiedenen Zug um ihren Mund und ihr vorgeschobenes Kinn sah, gab er es auf.
»Na gut, aber bleib aus dem Wege, und wenn das Schiff dicht herankommt, dann geh unter Deck, ohne daß ich es dir noch einmal sagen muß. Beim ersten Angriff trübt ihnen die Mordlust den Blick, dann ist es ihnen gleich, ob Mann oder Frau.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zu Gurvan um und blickte zum Segel hoch.
»Wir halten den Kurs, bis ich es sage.«
Gurvan nickte nur kurz.
Fidelma stellte sich in die hinterste Ecke des Achterdecks und beobachtete das sich entwickelnde Schauspiel.
»Deck!« kam der Ruf vom Mastkorb. »Sie schließt heran.«
Das näher kommende Schiff drehte den Bug auf sie zu. Der Bug war hochgezogen und schnitt durch das Wasser, das nach beiden Seiten wegspritzte. Die Ruder hoben und senkten sich, das von ihnen abtropfende Wasser funkelte wie Silber. Sie konnte etwas wie eine Trommel schlagen hören. Aus der Erfahrung ihrer früheren Reise nach Rom wußte sie, daß auf Galeeren oft ein Mann mit einer Trommel den Rhythmus der Ruderer angab.
»Was schätzt du, Gurvan?« Murchad spähte hinüber. »Fünfundzwanzig Ruder je Seite?«
»Scheint so.«
»Ruder. Die verschaffen den Angelsachsen einen Vorteil uns gegenüber ...« Murchad schien laut zu denken. »Andererseits könnte es auch bedeuten, daß sie sich beim Manövrieren auf kurze Entfernung nicht auf ihre Segelkunst verlassen. Vielleicht haben wir da einen Vorteil.«
Er blickte hoch zum Großsegel.
»Die Steuerbordfallen anziehen!« schrie er. »Sie sind zu locker.«
Je straffer das Segel, desto höher die Fahrt, doch der Wind konnte das Schiff auf die Seite drücken und kreuzenden Wellen aussetzen. Auch belastete es den Großmast.
»Kapitän, wenn der Wind nachläßt, sind wir ohne Ruder hilflos«, meinte Gurvan beunruhigt.
Da tauchte Wenbrit neben Fidelma auf.
»Gehst du nicht nach unten, Lady?« fragte er besorgt. »Die anderen sind alle unter Deck, und ich habe ihnen gesagt, sie sollen da bleiben. Hier wird es gefährlich.«
Fidelma schüttelte rasch den Kopf.
»Unten würde ich sterben, wenn ich nicht weiß, was passiert.«
»Hoffentlich stirbt keiner von uns«, murmelte der Junge und starrte zu dem herankommenden Schiff hinüber. »Beten wir zu Gott, daß er uns einen starken Wind schickt.«