»Und Muirgel war eifersüchtig?«
»Was empfindet jemand, der abgewiesen worden ist?«
Fidelma spürte, wie sie errötete. Sie fragte sich, ob Bairne etwas von ihrer Vergangenheit wüßte, doch der junge Mann starrte in seinen Krug.
»Wann hast du Muirgel zuletzt gesehen?«
»Gesehen? Gestern abend vermutlich. Ich sprach mit ihr durch ihre Kajütentür kurz vor Mitternacht.«
»Durch die Tür? Wie meinst du das genau?«
»Sie machte nicht auf, als ich anklopfte. Ich fragte, ob es ihr besser ginge und ob ich ihr etwas bringen solle. Sie rief mir durch die Tür zu, sie wolle weiter nichts als in Ruhe gelassen werden. Danach ging ich zu Bett.«
»Bist du während der Nacht aufgestanden?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wann bist du aufgestanden?«
»Ungefähr bei Tagesanbruch, glaube ich. Ich mußte die defectora aufsuchen.« Aus Höflichkeit benutzte er den lateinischen Ausdruck statt des umgangssprachlichen.
»Ach ja. Ich habe gehört, daß du nicht die defectora im Achterschiff benutzt hast, sondern zu der im Bug gegangen bist. Das war ein weiter Weg. Warum hast du das getan?«
Bruder Bairne sah sie überrascht an.
»Ich hatte wohl ganz vergessen, daß es im Achterschiff eine defectora gibt. Ich weiß es nicht mehr genau.«
»Als du zurückkamst, war da noch jemand aufgestanden?«
»Ich sah diesen Halunken Cian an der Tür von Muirgels Kajüte stehen. Er sagte so etwas wie, er wolle sehen, ob alle den Sturm gut überstanden hätten. Ich wartete, weil ich glaubte, er wollte sich wieder an Mu-irgel heranmachen. Aber er kam gleich zurück aus ihrer Kajüte und sagte, er könne sie nicht finden.«
»Und da hast du erfahren, daß sie nicht an Bord zu entdecken war?«
Bruder Bairne beugte sich über den Tisch und schaute ihr ins Gesicht.
»Wenn du die Wahrheit wissen willst, Schwester, dann sag ich sie dir. Ich glaube nicht, daß Muirgel über Bord fiel. Ich glaube, sie wurde gestoßen. Und ich sag dir auch, wer’s getan hat.«
Er legte eine dramatische Pause ein, so daß sie fragen mußte: »Und wer hat’s getan?«
»Schwester Crella.«
Fidelma bemühte sich, ein undurchdringliches Gesicht zu machen.
»Du hast mir gesagt, wer es war; nun sag mir auch, warum.«
»Eifersucht!«
Fidelma musterte Bairnes verbissene Miene.
»Worauf sollte sie eifersüchtig sein?«
»Auf Muirgel natürlich! Frag sie doch. An allem ist nur dieser eingebildete Aff .«
Fidelma unterbrach ihn: »Von wem redest du?«
»Von diesem einarmigen Halunken Cian. Er steckt hinter allem! Das kannst du mir glauben!«
Fidelma wachte früh auf. Es war noch dunkel, als sie aus ihrer Koje kletterte, und sie hörte das zornige Fauchen des Mäuseherrn, der von ihrer plötzlichen Bewegung gestört worden war und sich am Fußende der Koje reckte.
Rasch wusch sie sich und zog sich an. Sie wünschte, sie könnte ein richtiges Bad nehmen, denn sie fühlte sich verschwitzt und unbehaglich. Sie warf sich ihren schweren Mantel über und ging an Deck.
Ein schwacher Lichtstreifen am Osthorizont verriet, daß der Tagesanbruch nicht mehr fern war. Es herrschte eine seltsame, unheimliche Stille auf dem Schiff, obwohl sie die dunklen Gestalten von Männern erkennen konnte, die dastanden, als warteten sie auf etwas. Wie Fidelma warteten sie auf die Morgendämmerung.
Fidelma ging vorsichtig nach achtern und traf wie vermutet auf Murchad und Gurvan, die beieinanderstanden. Zwei Matrosen waren schattenhaft am Steuerruder zu erkennen. Zu hören waren nur der Wind in der Takelage und die leisen Bewegungen der ledernen Segel.
Als es am vorigen Abend dämmerte, hatte das angelsächsische Schiff hinter ihnen immer noch versucht, gegen den Wind an sie heranzukommen. Sobald es dunkel war, hatte Murchad befohlen, alle Lichter zu löschen, die ihre Position hätten verraten können. Er wendete nach Norden und drehte nach einer Stunde in den Wind auf einen Kurs nach Südwest, der sie von der letzten bekannten Position des Angelsachsen wegführte.
Bei Anbruch der Morgendämmerung würde es sich herausstellen, ob die List erfolgreich war.
Es war kalt im grauen Morgenlicht, und der Wind war nicht stark. Es klarte auf, und der schmale Lichtstreif wurde breiter.
Niemand hatte ein Wort zur Begrüßung gesagt. Alle standen still wie Statuen und beobachteten den Osthimmel.
»Rot«, murmelte Gurvan und brach damit das Schweigen.
Weiter fiel kein Wort. Jeder wußte, was er meinte. Morgenrot prophezeite schlechtes Wetter. Doch es gab Wichtigeres zu bedenken jetzt, da sich das Tageslicht immer mehr ausbreitete. Alle versuchten das Zwielicht mit ihren Blicken zu durchdringen.
»Mastkorb! Hoel! Was siehst du?«
Nach einer Pause kam ein schwacher Ruf zurück.
»Der Horizont ist leer. Kein Segel in Sicht.«
Als erster entspannte sich Murchad sichtlich.
»Nichts zu sehen«, murmelte er. »Kein Segel und kein Mast.«
»Ich glaube, es hat geklappt, Kapitän«, stimmte ihm Gurvan zu.
Murchad klatschte vor Freude in die Hände. Er grinste vor Vergnügen.
»Segel sind allemal besser als Ruder«, schmunzelte er. »Ach, da ist sie ja .« Er legte den Kopf schief und nickte zufrieden.
Fidelma fragte sich, was er wohl meinte.
»Die Morgenbrise . ja, der Wind dreht. Dann erreichen wir heute noch Ushant. Vielleicht schon am Mittag, und wenn der Wind zunimmt«, er betrachtete den rötlichen Himmel, »und das Wetter wirklich schlecht wird, können wir dort Schutz suchen. Die Biskaya möchte ich nicht bei schlechtem Wetter durchqueren, wenn ich es vermeiden kann.«
Nachdem Murchad nun die angelsächsischen Seeräuber erfolgreich abgehängt hatte, war er anscheinend wieder in bester Laune.
»Halt sie auf Kurs, Gurvan. Ich geh zum Frühstück. Schwester Fidelma, würdest du mich dazu in meine Kajüte begleiten?«
Fidelma bedankte sich für die ungewöhnliche Einladung, und Murchad ließ Wenbrit ausrichten, er solle das Frühstück für beide in seine Kajüte bringen.
Es war viel angenehmer, mit Murchad zu frühstük-ken als mit den anderen Pilgern, stellte Fidelma fest, besonders nach den Spannungen der letzten vierundzwanzig Stunden. Murchad sprach das Thema an, das ihnen beiden am wichtigsten war.
»Nun, was hast du über den Tod dieser Frau - Mu-irgel - in Erfahrung bringen können?«
Fidelma ließ sich auf einem der zwei Stühle nieder, die zu beiden Seiten des kleinen Holztisches in Mur-chads Kajüte eingeklemmt standen. Der Kapitän holte eine Flasche und zwei Tonbecher aus dem Schrank.
»Corma« erklärte er, als er eingoß. »Das hält die Morgenkälte ab.«
Normalerweise wäre Fidelma nie auf die Idee gekommen, gleich am Morgen so ein kräftiges Getränk zu genießen. Doch der Tag war kühl, und sie fröstelte. Sie nahm den Becher und nippte an der feurigen Flüssigkeit, ließ sie sich auf der Zunge verteilen und befeuchtete damit die Lippen. Sie hüstelte.
»Ich habe mit allen aus der Pilgergruppe gesprochen, Murchad«, antwortete sie. »Ich habe niemandem gesagt, daß wir den Verdacht hegen, sie sei nicht einfach über Bord gespült worden. Interessanterweise vermuten jedoch mindestens zwei Leute, daß sie ermordet wurde.«
»Und?« fragte Murchad gespannt.
»Es gibt keine einfache Lösung ...«
Es wurde angeklopft, und Wenbrit kam herein. Er trug ein Tablett mit gekochtem Fleisch, Käse und Obst sowie Zwieback.
Er lächelte Fidelma an.
»Bruder Cian hat gefragt, wo du bist. Ich hab ihm gesagt, du frühstückst mit dem Kapitän. Das war ihm offenbar gar nicht recht.«
Fidelma gab keine Antwort. Es war ihr gleich, ob Cian sich nach ihr erkundigte.
»Hast du ihnen erklärt, daß wir dem Seeräuber entkommen sind, Junge?« fragte Murchad.