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Sie setzte die Lampe neben der Koje ab und beugte sich vor. In dem Moment packte sie eine schauerliche Vorahnung. Die Decken, das sah sie erst jetzt, verdeckten eine menschliche Gestalt. Den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann zog sie eine Decke fort.

Dort lag eine Frau auf dem Rücken, nur in ihrer blutgetränkten Unterwäsche. Die Augen waren noch offen, und das Blut kam in kleinen Stößen aus einer unregelmäßigen Schnittwunde am Hals, die die Schlagader durchtrennt hatte. Die dunklen, erstarrenden Augen wandten sich stumm und bittend Fidelma zu, dann zuckten die Lippen, brachten noch ein gurgelndes Geräusch zustande und färbten sich mit Blut.

Fidelma beugte sich rasch über sie.

Es gab ein letztes krampfhaftes Atemholen, aber keine Worte mehr. Die sterbende Frau schien Fidelma eine geballte Faust entgegenzustrecken.

Dann sank der Kopf kraftlos zur Seite, und Blut schoß aus dem halbgeöffneten Mund. Die Faust löste sich, und etwas fiel klappernd zu Boden. Fidelma bückte sich unwillkürlich und hob es auf. Es war eine kleines silbernes Kruzifix an einer zerrissenen Kette.

Fidelma stand langsam auf und hielt die Lampe höher, um der Frau ins Gesicht zu sehen. Verwirrt schaute sie sie an und versuchte das, was sie vor sich sah, mit den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden in Einklang zu bringen.

Die tote Frau, die mit kurz zuvor durchschnittener Kehle auf der Koje vor ihr lag, war Schwester Muirgel.

Kapitel 14

»Das verstehe ich nicht«, erklärte Murchad nicht zum erstenmal, kratzte sich den Kopf und starrte die Leiche an. Fidelma hatte ihn in die Kajüte gerufen, ohne jemand anderem etwas zu sagen. Er sah völlig perplex aus. »Bist du sicher, daß das Schwester Muirgel ist? Ich hab sie nur ganz kurz gesehen an dem Tag, als sie alle an Bord kamen. Kann es nicht eine der anderen Schwestern sein?«

Fidelma schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich sah sie auch nur ein paar Minuten, als ich in ihre Kajüte ging, aber ich bin sicher, daß es dieselbe Frau ist. Es ist bestimmt keine der drei anderen.«

Murchad seufzte schwer und ratlos.

»Demnach scheint es so, als wäre diese Schwester Muirgel zweimal ermordet worden«, meinte er trocken. »Einmal in der ersten Nacht nach dem Auslaufen, als ihre blutbefleckte Kutte gefunden wurde, aber nicht ihr Leichnam, und jetzt zum zweitenmal, als ihr jemand die Kehle durchschnitt. Was hat das zu bedeuten?«

»Das bedeutet, daß Schwester Muirgel uns zunächst glauben machen wollte, sie wäre tot ... Während sie in Wirklichkeit noch an Bord war und sich irgendwo versteckt hielt ... Oder von jemandem versteckt wurde. Weißt du noch, was Wenbrit von den fehlenden Lebensmitteln erzählte? Da schöpfte ich gleich Verdacht. Deshalb wollte ich noch einmal suchen lassen. Muirgel spielte uns was vor. Doch das Messer ist nicht zu finden.«

»Aber warum wollte Muirgel uns glauben machen, sie sei erstochen oder vom Sturm über Bord gerissen worden?« fragte Murchad. »Warum hat man die Kutte so hingelegt, daß wir gleich einen Mord vermuten mußten?«

Fidelma besah sich das Kruzifix, das sie in der Hand hielt. Muirgel hatte es fallen lassen. Fidelma hatte es fast vergessen in den letzten Minuten, in denen sie nach einer Erklärung für das Rätsel suchte.

»Was ist das?« fragte der Kapitän, als er es sah.

»Ihr Kruzifix. Es muß ihr in den letzten Minuten ihres Lebens Trost gegeben haben. Sie hielt es umklammert, als sie starb.«

»Eine fromme Frau«, meinte Murchad und wies auf das größere, prunkvollere Kruzifix, das noch am Halse der Toten hing.

Fidelma schaute auf das Kruzifix in ihrer Hand. Es war ganz anders als das, welches Muirgel getragen hatte. Es war zwar kleiner, aber geschmackvoller gearbeitet, und ihr wurde plötzlich klar, daß dieses Kruzifix nicht Muirgel gehört hatte. Sie wendete es nachdenklich um. Erst beim zweiten Umwenden fiel ihr auf, daß ein Name eingeritzt war.

»Halte mal die Lampe näher«, bat sie Murchad. Der tat es.

Die Zeichen waren nur schwach markiert, doch der Name war gut zu lesen. Canair.

Fidelma überlegte.

»Bist du dieser Schwester Canair mal begegnet?« fragte sie Murchad.

»Die hab ich nie gesehen. Die Überfahrt wurde, wie deine auch, vor Ankunft der Pilger bezahlt, in diesem Fall von der Abtei des heiligen Declan. Ich kannte nur die Namen der Pilger, und die mußten mit der Zahl der bezahlten Plätze übereinstimmen. Elf waren bezahlt, aber nur zehn Leute, außer dir, kamen an Bord. Mir wurde gesagt, Schwester Canair, die Führerin der Pilgergruppe, sei nicht in Ardmore angekommen, und da wir mit der Ebbe auslaufen mußten .« Er zuckte abweisend die Achseln. »Was machen wir jetzt?«

Fidelma brauchte einen Moment, um zu einem Entschluß zu kommen.

»Ich forsche weiter, aber nun haben wir eine Leiche, die ein Verbrechen beweist. Zunächst einmal werden ein paar Dinge klarer. Zum Beispiel, daß Bruder Guss, der behauptete, er liebe Muirgel, nicht von Gram gebeugt war, als wir alle glaubten, sie sei über Bord gespült worden. Er wußte offensichtlich, daß sie noch am Leben war. Doch mein Verdacht ändert sich jetzt. Ich fürchte, ich bin der Lösung des Rätsels nicht näher als zuvor. Es sind noch zu viele Fragen offen.«

Fidelma schaute den Kapitän an.

»Es sitzen noch alle beim Frühstück, nehme ich an?

Könntest du wohl Bruder Tola und Bruder Guss herholen? Laß sie aber nicht in die Kajüte, ehe ich es sage. Ach, und kannst du einen Matrosen entbehren? Ich glaube, wir werden eine Wache vor die Kajüte stellen müssen.«

Wortlos ging Murchad los. Kurz danach klopfte es an der Tür. Ein rotgesichtiger Matrose steckte den Kopf herein. »Ich heiße Drogan, Lady. Der Kapitän hat mir gesagt, du brauchst hier unten jemand.«

»Ja. Bleib draußen und laß niemanden in die Kajüte, bis ich es dir sage.«

Drogan legte die Faust zum Gruß an die Stirn und zog sich zurück. Kurz darauf hörte sie draußen Bruder Tolas quengelige Stimme, der wissen wollte, was er hier sollte. Fidelma ging zur Tür.

»Komm rein, Bruder Tola«, befahl sie knapp. Als sie Bruder Guss hinter ihm erblickte, fügte sie hinzu: »Du wartest draußen. Ich habe gleich noch mit dir zu reden.«

Mit düsterer Miene trat Bruder Tola ein.

»Was ist denn jetzt los?« wollte er wissen und sah sich angewidert um.

Fidelma ging zur Koje und hielt die Lampe über der Leiche hoch.

Bruder Tola schnappte nach Luft und trat einen Schritt näher.

»Wer ist das, Bruder Tola?« fragte Fidelma und ließ ihn nicht aus den Augen.

Er sah völlig verwirrt aus und beugte sich kopfschüttelnd vor.

»Es ist Schwester Muirgel«, flüsterte er. »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, sie wäre über Bord gespült worden.«

Es stand außer Frage, daß seine Überraschung echt war.

»Geh zu den anderen zurück, Tola«, befahl ihm Fidelma leise, »aber erzähl nichts hiervon, bis ich nachkomme. Das wird bald sein. Sag Bruder Guss, er soll reinkommen, wenn du rausgehst.«

Mit leichtem Kopfschütteln verließ sie der erschütterte Mönch. Fidelma war enttäuscht. Sie hatte beinahe damit gerechnet, daß ein Anzeichen verraten würde, daß Tola nicht sehr erstaunt wäre über den Anblick der Leiche Muirgels. Ein so guter Schauspieler war er sicher nicht. Er war ebenso verblüfft von Mu-irgels Wiederauftauchen wie sie selbst. Dann trat mit einem leisen Hüsteln der junge Mönch ein.

Wieder hob Fidelma einfach die Lampe hoch und beobachtete sein Gesicht.

»Wer ist das, Bruder Guss?«

Der junge Mann wurde totenblaß und taumelte zurück. Fidelma glaubte einen Moment, er werde ohnmächtig. Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte herzzerreißend.

»Muirgel! O mein Gott, Muirgel!« Er wiegte sich auf den Fersen vor und zurück.