Fidelma hängte die Lampe an und schob ihn sacht auf einen Stuhl.
»Du hast mir einiges zu erklären, Bruder Guss. Als ich dich gestern befragte, wußtest du, daß Schwester Muirgel noch am Leben war. Du hast nicht diesen Schmerz gezeigt, als wir alle annahmen, sie sei über Bord gespült worden. Wo hatte sie sich versteckt und warum?«
»Ich habe Muirgel geliebt«, schluchzte der junge Mann leise.
»Und du wußtest, daß sie noch lebte?«
»Ja, das wußte ich«, bestätigte er zwischen seinem Schluchzen.
»Warum hat sie so ein Schauspiel inszeniert und vorgegeben, sie sei über Bord gefallen?«
»Sie fürchtete, daß man sie umbringen würde«, sagte er weinend.
Fidelma betrachtete ihn neugierig.
»Willst du damit sagen, daß sie sich irgendwo an Bord versteckte, weil sie ihr Leben in Gefahr glaubte?«
Er nickte und versuchte sein kummervolles Schluchzen zu unterdrücken.
»Warum kam sie dann überhaupt an Bord, wenn sie um ihr Leben fürchtete? Ist ein Schiff nicht der letzte Ort, an dem man Zuflucht finden kann?«
»Sie begriff erst, daß sie das nächste Opfer sein würde, nachdem sie an Bord war. Da war es zu spät, wir waren schon ausgelaufen. So richtete sie es ein, daß sie sich versteckte, und ich half ihr dabei.«
»Das nächste Opfer?« fragte Fidelma.
»Schwester Canair war schon ermordet worden, bevor wir an Bord kamen.«
»Canair?« Fidelma war erstaunt. »Willst du damit sagen, Schwester Muirgel und du, ihr hättet schon gewußt, als ihr an Bord kamt, daß Schwester Canair tot ist?«
»Das ist eine lange Geschichte, Schwester«, erklärte Bruder Guss, der sich nun wieder ein wenig unter Kontrolle hatte.
»Dann fang mal an damit. Zu welchem Zweck hat sich Schwester Muirgel im Schiff verborgen, statt in ihrer Kajüte zu bleiben?«
»Sie wollte sich vor dem Mörder verstecken, und dann wollte ich sie im ersten Hafen, den wir anliefen, von Bord schmuggeln, wahrscheinlich auf Ushant. Wir hofften, daß wir in der Dunkelheit ankommen würden, und wollten uns dort verbergen, bis das Schiff mitsamt dem Mörder ausgelaufen war.«
»Ein merkwürdiger Plan. Warum habt ihr nicht einfach die Geschichte dem Kapitän berichtet? Wenn ihr wußtet, daß sich ein Mörder an Bord befand und weiter töten wollte .«
»Es war Muirgels Idee. Sie meinte, niemand würde ihr glauben. Jetzt müssen sie’s.« Der junge Bruder begann erneut zu schluchzen.
»Also der Mörder war an Bord. Weißt du, wer es ist?«
Guss schüttelte traurig den Kopf.
»Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht sicher. Muirgel wußte es, wollte es mir aber nicht verraten, um mich nicht in Gefahr zu bringen. Ich kann nur vermuten, wer es sein könnte.«
Der junge Mann stand unter Schock, denn er sprach wie im Traum, langsam und bedächtig, mit leerem Blick.
Unter anderen Umständen hätte Fidelma sich um ihn gekümmert, aber sie mußte mehr erfahren, und zwar sofort. Sie langte in ihre Kutte, holte das kleine silberne Kruzifix hervor, das Schwester Muirgel in der Faust gehabt hatte, und hielt es ihm hin.
»Kennst du das?« wollte sie wissen.
Guss stieß ein hysterisches Lachen aus.
»Es gehörte Schwester Canair.«
»Woher weißt du, daß Canair tot ist? Oder wußte das auch nur Muirgel mit Sicherheit?«
»Ich hab ihre Leiche gesehen. Wir beide sahen sie.«
»Bist du sicher, daß es Canair war?«
»Den Anblick dieser Leiche vergesse ich nicht so leicht.«
»Wann war das?«
»In der Nacht, bevor wir an Bord gingen.«
»In der Abtei Ardmore?«
»Nicht in der Abtei. Muirgel und ich blieben dort nicht die ganze Nacht.«
Die plötzlichen Wendungen dieser Geschichte konnten Fidelma kaum noch überraschen.
»Ich dachte, eure ganze Gruppe übernachtete in der Abtei.«
»Wir kamen am späten Nachmittag zusammen in der Abtei an. Vorher hatte uns Schwester Canair erklärt, daß sie in der Nähe einen Besuch machen wollte, und sich von uns getrennt. Sie wollte später dazustoßen, meinte aber, wenn es zu spät würde, dann würde sie uns morgens am Kai treffen. Der Abt hatte unsere Überfahrt auf der >Ringelgans< schon mit dem Kapitän geregelt, wir brauchten uns also nur noch dort zu sammeln und an Bord zu gehen.«
»Ich verstehe. Aber Schwester Canair erschien am nächsten Morgen nicht am Kai, nicht wahr?«
»Nein. Da war sie schon tot.«
»Wann habt ihr erfahren, daß sie tot ist?«
»Wie ich bereits sagte, kamen wir in der Abtei an. Die meisten von uns waren müde und erschöpft und gingen zu Bett. Muirgel flüsterte mir zu, sie wolle vorher noch einen Spaziergang machen. Ich sollte mich, ohne mich sehen zu lassen, vor den Toren der Abtei mit ihr treffen. Crella hängte sich die ganze Zeit an sie und ging ihr auf die Nerven. Sie sagte, sie wolle mit mir allein sein. Du weißt doch, wir liebten uns.«
»Sprich weiter«, forderte ihn Fidelma auf, als er schwieg. »Hast du sie draußen getroffen?«
»Ja. Sie war guter Laune und . auch in einer sehr ungezogenen Stimmung. Sie meinte, am Fuße des Berges gebe es eine Herberge, und dort könnten wir die Nacht verbringen, ohne daß uns jemand fände oder störte.«
»Warst du damit einverstanden?«
»Natürlich.«
»Und ihr habt die Nacht in diesem Gasthaus verbracht?«
»Einen Teil davon.«
»Und Schwester Canair? Was hat das mit ihr zu tun?«
Bruder Guss holte tief Atem und stieß einen schweren Seufzer aus.
»Wir . nachdem wir . einige Zeit, nachdem wir im Bett waren - in der Herberge, meine ich -, hörten wir so etwas wie ein Handgemenge im Nachbarzimmer. Wir dachten uns nichts dabei. Dann vernahmen wir einen Schrei und wie jemand den Gang entlanglief. Wir hätten uns nicht darum gekümmert, wenn nicht ein Stöhnen aus dem Nebenzimmer gedrungen wäre.«
»Was tatet ihr?«
»Aus Neugierde ging Muirgel zur Tür und horchte. Dann schaute sie hinaus auf den Gang. Die Tür des anderen Zimmers stand leicht offen, und drinnen flak-kerte eine Kerze. Sie schaute hinein und wollte sehen, ob sie helfen könnte, denn jemand litt offensichtlich Schmerzen.«
Der junge Mann stockte. Sein Mund war wohl trocken, und Fidelma reichte ihm einen Krug mit Wasser. Danach fuhr er fort.
»Muirgel eilte zu mir zurück. Sie war erregt und entsetzt. Sie flüsterte: >Es ist Schwester Canair!< Ich ging in das Zimmer und sah Canair auf dem Bett liegen. Man hatte ihr mehrmals in die Brust gestochen, in der Herzgegend. Dann hatte man ihr die Kehle durchgeschnitten.«
Fidelma kniff die Augen zusammen.
»Das deutet auf einen Wutanfall hin.«
Bruder Guss ging nicht darauf ein.
Fidelma wollte mehr wissen.
»Doch du sagtest, daß sie noch lebte? Daß ihr sie stöhnen hörtet?«
»Ihre letzten Züge, wie sich herausstellte«, antwortete der junge Mann. »Als ich ins Zimmer kam, war sie schon tot. Ich deckte sie mit der Bettdecke zu und blies die Kerze aus. Dann kehrte ich zu Muirgel zurück.«
»War Canair schon tot, als Muirgel hineinging? Hat sie noch etwas gesagt, ehe sie starb?«
Bruder Guss schüttelte den Kopf.
»Als Muirgel die Wunden sah, geriet sie in Panik. Sie wagte sich nicht näher heran, aber Canair konnte ohnehin keine verständlichen Worte mehr herausbringen.«
»War etwas von der Waffe zu sehen, mit der man ihr die Wunden zugefügt hatte?«
»Ich sah keine Waffe, aber ich war auch zu erschüttert, um danach zu suchen. Wir besprachen lange, was wir tun sollten. Es war Muirgels Idee, daß wir einfach die Herberge verließen, zur Abtei zurückkehrten und so taten, als wären wir die ganze Nacht dort geblieben.«
»Aber der Herbergswirt konnte bezeugen, daß ihr dort wart.«
»Daran dachten wir nicht.«
»Warum habt ihr nicht Alarm geschlagen? Vielleicht hätte man den Mörder noch fassen können.«