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»Ich brauche Tatsachen«, unterbrach ihn Fidelma scharf, »nicht deine Vermutungen. Hat Muirgel gesagt, vor wem sie sich fürchtete?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Nein, das hat sie nicht«, gab er zu.

Fidelma rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Wir können nicht auf einen Verdacht hin vorgehen, Guss. Wenn du mir keine handfesten Beweise vorlegen kannst, dann .« Sie ließ den Satz unvollendet.

»Dann läßt du Crella entwischen?« hielt ihr Bruder Guss zornig vor.

»Mir geht es darum, die Wahrheit herauszubekommen.«

Der junge Mann starrte sie einen Moment herausfordernd an, dann wandelte sich seine Miene in ein Bild des Schmerzes.

»Ich habe sie geliebt! Ich hätte alles für sie getan.

Jetzt fürchte ich um mein eigenes Leben, denn Crella wird nun wissen, daß ich Muirgels Geliebter war und sie versteckt hatte. Wie weit wird sie in ihrer Eifersucht noch gehen?«

Fidelma schaute den jungen Mann mitleidig an.

»Wir werden aufpassen, Bruder Guss. In der Zwischenzeit kannst du in dem Gedanken Trost finden, daß du Muirgel geliebt hast, und wenn sie, wie du sagst, dich auch geliebt hat, dann warst du doppelt gesegnet. Denk an das Hohelied Salomos, denn daraus ist der Vers, den Muirgel zitiert hat. Der nächste Vers lautet:

>Daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen Noch die Ströme sie ertränken.<«

Bruder Guss brachte es nicht über sich, zu den Gefährten zurückzukehren, sondern ging in seine eigene Kajüte um dort seinem Kummer nachzuhängen. Fidelma traf Murchad vor der Tür von Muirgels Kajüte, wo er mit dem Matrosen Drogan zusammenstand.

»Halte hier Wache, Drogan, und laß niemand hinein ohne meine oder Murchads Erlaubnis«, wies sie ihn an. Dann fragte sie den Kapitän: »Sind noch alle beim Frühstück?«

Er nickte.

»Was wirst du ihnen sagen?« erkundigte er sich.

»Ich werde ihnen die Wahrheit sagen. Der Mörder kennt die Wahrheit, warum also sollen die anderen sie nicht auch kennen? Je eher alles aufgedeckt ist, desto eher macht der Mörder vielleicht einen Fehler.«

Murchad folgte Fidelma zum Messedeck, wo Wen-brit gerade die Reste der Frühstücksmahlzeit abräumte. Die Pilger saßen schweigend da. Bruder Tola war wieder unter ihnen, und obgleich er sich geweigert hatte, ihnen zu sagen, was geschehen war, merkten doch alle, daß etwas Schlimmes passiert sein mußte. Als Fidelma eintrat und sich ans Kopfende des Tisches stellte, versuchte nur Cian, sie zu begrüßen. Sie reagierte nicht darauf. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und jeder bemühte sich zu erraten, um was es ging.

Selbst Wenbrit spürte das und blieb stehen, die gebrauchten Teller noch in den Händen.

»Wir haben die Leiche von Schwester Muirgel gefunden«, verkündete Fidelma.

Schwester Crella erhob sich halb und sank dann mit einem schmerzlichen Stöhnen zurück. Schwester Gorman kicherte vor Aufregung.

Bruder Tola, der bisher hatte Schweigen bewahren müssen, stellte die erste Frage.

»Heißt das, daß sie die ganze Zeit an Bord war? Daß sie nicht über Bord gefallen war?«

»Ja.«

»Das verstehe ich nicht. Wie konnte sie denn ertrinken, wenn sie nicht über Bord gefallen war?« wollte Schwester Ainder wissen.

Fidelma sah sie mit einem kühlen Lächeln an.

»Das ist ganz einfach: Sie ist nicht ertrunken. Man hat ihr innerhalb der letzten Stunde die Kehle durchgeschnitten.«

Schwester Crellas Stöhnen steigerte sich zu einem schrillen Schreien.

Fidelma sah sich rasch am Tisch um. Schwester Crella war anscheinend die einzige, die sichtlich erschüttert war, obgleich alle eine gewisse Bewegung zeigten.

»Bist du sicher?« Diese Frage kam von Cian.

»Sicher worin?« fragte sie zurück.

Cian wurde verlegen unter ihrem durchdringenden Blick.

»Sicher, daß es Schwester Muirgel ist, von der wir reden«, erklärte er lahm. »Erst heißt es, sie ist tot, dann wieder ist sie lebendig und jetzt wieder tot. Was ist sie denn nun wirklich?«

Fidelma schaute Bruder Tola an.

»Es ist Schwester Muirgel«, bestätigte er ruhig. »Ich habe die Leiche erkannt, ebenso Bruder Guss ...« Er blickte sich um und merkte erst jetzt, daß Guss nicht zurückgekommen war.

Fidelma erriet, wonach er fragen wollte.

»Bruder Guss hat sich in seiner Kajüte hingelegt«, erklärte sie allen. »Er war auch sehr erschüttert.«

Am Tisch gab es keinen Laut außer dem Schluchzen Schwester Crellas.

»Schwester Muirgel wurde im Laufe der letzten Stunde ermordet«, fuhr Fidelma fort. »Könnt ihr alle darüber Rechenschaft geben, wo ihr in dieser Zeit wart?«

»Was?« Schwester Gorman war völlig aus dem Häuschen.

»Behauptest du, es war einer von uns?«

Fidelma sah sie alle der Reihe nach an.

»Jedenfalls war es keiner von der Mannschaft!« Sie lächelte dünn. »Schwester Muirgel kannte ihren Mörder. Sie hatte ihr Verschwinden vorgetäuscht, um ihrem Mörder zu entgehen. Sie versteckte sich am Tage und kam nachts oder im Morgengrauen heraus, um zu essen und sich Bewegung zu verschaffen.« Da fiel Fidelma etwas ein. »An dem Morgen nach der Nacht, in der sie über Bord gegangen sein sollte, als dichter Nebel das Schiff einhüllte, traf ich sie an Deck und erkannte sie nicht. Wir können davon ausgehen, Wen-brit, daß sie die Lebensmittel verzehrt hat, die dir fehlen.«

Der Junge schaute sie erstaunt an.

»Willst du damit sagen, daß Schwester Muirgel es so eingerichtet hat, daß wir denken sollten, sie sei über Bord gefallen?« Schwester Ainder hatte immer noch Mühe, das zu begreifen. »Warum denn?«

»Sie wollte ihren Mörder irreführen.«

Bruder Tola stieß ein ungläubiges Lachen aus.

»Wo in Gottes Namen könnte sie sich auf dem Schiff versteckt haben? Es gibt doch keinen Platz dafür.«

»Verzeih, aber darin kann ich dir nicht zustimmen.« Fidelma war versucht, ihm zu erklären, daß Muirgel die erste Nacht nur eine Armlänge von ihm entfernt verbracht hatte, während er schlief. »Wichtiger ist jedoch, daß der Mörder Schwester Muirgels unserer Gruppe angehört. Wo wart ihr alle innerhalb der vergangenen Stunde?«

Sie sahen einander mißtrauisch an.

Bruder Tola nahm für sie das Wort.

»Wir setzten uns alle zum Frühstück hin. Das war etwa vor einer Stunde.«

Wie sich herausstellte, wollte jeder davor in seiner Kajüte gewesen sein, mit Ausnahme von Schwester Ainder, die erklärte, sie habe die defectora aufgesucht, und Cian, der sagte, er habe an Deck Freiübungen gemacht.

»Warst du in deiner Kajüte, Bruder Bairne?« erkundigte sich Fidelma.

»Ja.«

»Sie liegt neben der von Muirgel. Hast du etwas gehört?«

»Willst du mich beschuldigen?« entrüstete sich der junge Mann und wurde rot im Gesicht. »Eine solche Anschuldigung müßtest du beweisen.«

»Ich würde eine solche Beschuldigung nur erheben, wenn ich sie beweisen könnte«, erwiderte Fidelma fest. »Ich muß mit jedem von euch noch einmal einzeln sprechen.«

»Mit welchem Recht?« fauchte Schwester Ainder empört. »Das ist doch alles lächerlich. Leute werden über Bord gespült, und dann sind sie’s gar nicht. Unfälle verwandeln sich in Morde. Hier gibt’s sogar Leichen, die nicht tot sind!«

»Du kennst mein Recht und meine Befugnis zu dieser Untersuchung bereits«, unterbrach Fidelma ihren Redeschwall.

Bruder Tola sah Murchad an.

»Ich nehme an, Fidelma handelt weiterhin mit deiner Billigung, Kapitän?«

»Ich habe Fidelma von Cashel unbeschränkte Vollmacht in dieser Sache erteilt«, sagte Murchad. »Und dabei bleibt es.«

Kapitel 15

Sie hatten die Westküste von Armorica gesichtet, dem Land, das nun »Klein-Britannien« oder Bretagne genannt wurde.