Murchad verkündete: »In ein paar Stunden werden wir die Insel Ushant in Sicht bekommen, die vor seiner Westspitze liegt.«
Fidelma war noch nie in Armorica gewesen, aber sie wußte, daß in den beiden letzten Jahrhunderten Zehntausende von Briten durch die Ausbreitung der Angeln und Sachsen aus ihrem Land vertrieben worden waren und die meisten von ihnen eine neue Heimat bei den Armorikanern gefunden hatten. Andere hatten im Nordwesten Iberias Zuflucht gesucht, und dieses Land, nach dem sie jetzt fuhren, nannte man Galicia. Wieder andere siedelten sich in den fünf Königreichen von Eireann an, allerdings nicht in solcher Zahl wie woanders. Doch in Armorica, unter einem Volk mit ähnlicher Sprache und Kultur, hatten die Flüchtlinge aus Britannien die politische Landschaft so verändert, daß man das Land nun »Klein-Britannien« nannte.
»Auf Ushant werden wir Wasser und frische Lebensmittel an Bord nehmen«, fuhr Murchad fort. »Wir haben noch nicht den halben Weg zurückgelegt, doch danach gibt es keine Gelegenheit mehr für euch, sich die Beine auf festem Boden zu vertreten und eine warme Mahlzeit und ein Bad zu genießen.«
Fidelma hörte seinen Worten nur zerstreut zu. Sie beobachtete, wie sich die Pilger auf dem Hauptdeck ergingen. Sie war verwirrt. Einer von ihnen war ein Mörder, und sie hatte keine Ahnung, wen sie verdächtigen sollte! Sie hatte Bruder Guss’ Geheimnis, daß Schwester Canair ebenfalls tot war, nicht preisgegeben. Sie hoffte, daß so vielleicht jemand seine Kenntnis davon verraten würde, die ihn oder sie als Mörder überführen würde. Die Anschuldigung gegen Schwester Crella ließ sich jedenfalls vorerst nicht beweisen.
Bruder Tola hatte seine gewohnte Stellung an Deck eingenommen, er saß mit dem Rücken an das Wasserfaß neben dem Großmast gelehnt und las in seinem Meßbuch. Die Brüder Dathal und Adamrae spazierten Arm in Arm auf dem Deck herum und lachten unpassenderweise, so meinte Fidelma, über einen gemeinsamen Witz. An der Steuerbordseite saß die hochgewachsene Schwester Ainder und hielt Bruder Bairne einen Vortrag. Schwester Crella wanderte mit verschränkten Armen immer noch erregt auf dem Deck umher und redete mit sich selbst. Fidelma schaute sich nach Bruder Guss um, doch der war nicht zu sehen, ebensowenig wie Schwester Gorman.
»Nun, Fidelma?« Cian war neben ihr aufgetaucht und riß sie aus ihren Gedanken. Sein Ton war spöttisch. »Nach dem Ruf zu urteilen, den du dir in den letzten Jahren erworben hast, hätte ich gedacht, das Rätsel um Schwester Muirgel wäre inzwischen gelöst.«
Es fiel ihr schwer zu glauben, sie sei einmal so unreif gewesen, diesen Mann zu lieben. Sie widerstand der Regung, ihm eine scharfe Antwort zu geben, denn auch ihm wollte sie noch ein paar Fragen stellen. Und nun bot sich die Gelegenheit dazu. Statt einer Antwort fragte sie also kühclass="underline" »Wie lange hat deine Affäre mit Schwester Muirgel gedauert?«
Cian fuhr zusammen. Sein überhebliches Lächeln wurde noch breiter.
»Rechnest du jetzt meine Liebesverhältnisse nach? Was willst du über Muirgel wissen?«
»Ich setze lediglich meine Nachforschungen über ihren Tod fort.«
Cian musterte ihre gelassene Miene, zuckte dann leicht mit den Schultern.
»Wenn du es genau wissen willst, nicht sehr lange. Bist du sicher, daß du kein persönliches Interesse an der Antwort hast?«
Fidelma mußte lachen.
»Du schmeichelst dir selbst, Cian - aber das hast du ja immer getan. Schwester Muirgel wurde von jemandem ermordet, den sie kannte. Das sagte ich schon am Frühstückstisch.«
»Willst du mich da hineinziehen?« tobte Cian. »Hat dir dein verletzter Stolz nach so vielen Jahren derart den Sinn verwirrt, daß du mich beschuldigst? Das ist doch völlig absurd!«
»Warum sollte das absurd sein? Bringen Liebende nicht gelegentlich einander um?« fragte sie harmlos.
»Meine Affäre mit Muirgel war lange vorbei, bevor wir auf diese Fahrt gingen.«
»Lange ist ein dehnbarer Begriff.«
»Na ja, ungefähr eine Woche vor unserem Aufbruch.«
»Hast du sie ohne ein Wort verlassen oder hattest du diesmal soviel Mut, es ihr ins Gesicht zu sagen?« fügte sie rücksichtslos hinzu.
Cian lief rot an.
»Tatsächlich war es so, daß sie mich verließ und, ja, sie hat es mir gesagt. So unglaublich es klingt, sie hat mir erklärt, sie liebe jemand anderen - nämlich Bruder Guss, diesen kleinen Idioten.«
Damit bestätigte sich, daß zumindest ein Teil der Geschichte von Bruder Guss der Wahrheit entsprach, obwohl Crella leugnete, daß ihre Freundin ein Verhältnis mit ihm hatte.
»Wie ich dich kenne, Cian, hast du das nicht einfach so hingenommen. Dafür bist du zu eitel. Du mußt doch dagegen protestiert haben.«
Cians herzhaftes Lachen überraschte Fidelma.
»Wenn du es wissen willst, ihr Geständnis hat mich sehr erleichtert, denn ich wollte das Verhältnis von mir aus beenden.«
Das glaubte sie ihm nicht. »Du kannst mich kaum davon überzeugen, daß du dich von einem jungen Burschen wie Guss verdrängen läßt, ohne daß das deinen Stolz verletzt.«
»Wenn du schon die schauerlichen Einzelheiten erfahren willst, Canair und ich liebten uns bereits eine Weile. Ich bemühte mich, Muirgel loszuwerden. Zum Glück machte sie es mir leicht.« An seiner prahlerischen Haltung war zu merken, daß Cian nicht log.
»Wann wurdest du Canairs Liebhaber?«
»Ach, das willst du auch genau wissen! Also wirklich, Fidelma, seit wann frönst du dem Voyeurismus?«
Sie mußte sich beherrschen, um ihm nicht in das höhnisch lachende Gesicht zu schlagen.
»Ich muß dich wohl daran erinnern«, erwiderte sie eisig, »daß ich eine dalaigh bin, die einen Mordfall untersucht.«
»Eine dalaigh meilenweit von unserem Heimatland entfernt, an Bord eines Pilgerschiffs«, spottete Cian. »Du hast kein Recht, in meinen Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln, dalaigh.«
»Ich habe jedes Recht dazu. Du hattest also Liebesaffären mit Muirgel und Canair? Wie ich dich kenne, hast du es wahrscheinlich mit den meisten jungen Frauen in Moville getrieben.«
»Eifersüchtig, wie?« höhnte Cian. »Du warst schon immer besitzergreifend und eifersüchtig, Fidelma von Cashel. Versuch deine Schnüffelei nicht als Teil deiner Pflicht auszugeben. Von deinen Schmolltouren hatte ich bereits genug, als wir noch jünger waren.«
»Dein törichter Stolz interessiert mich nicht, Cian. Ich will nur die Wahrheit herausbekommen. Ich muß Muirgels Mörder finden.«
Sie merkte, daß ihre Stimmen immer lauter geworden waren und sie sich fast anschrien. Zum Glück hatten wohl die Geräusche von Wind und Meer ihre Worte unverständlich gemacht, obgleich Murchad, der in der Nähe am Steuerruder stand, so bemüht nach See hinausblickte, als sei er verlegen. Er mußte ihren Wortwechsel mitgehört haben.
Fidelma fiel plötzlich auf, daß die junge, naive Schwester Gorman unbemerkt an Deck gekommen war, in der Nähe stand und sie mit unverhohlener Neugier beobachtete. Sie zupfte an einem Schal, den sie sich zum Schutz vor dem kühlen Wind um die Schultern gelegt hatte. Als ihr Blick dem Fidelmas begegnete, fing sie an zu kichern und zu singen.
Cian stieß einen unterdrückten Ausruf des Unwillens aus, wandte sich von Fidelma ab, rempelte das Mädchen leicht an und verschwand den Niedergang hinab. Schwester Gorman lachte schrill auf.
Gorman ist ein seltsames kleines Ding, dachte Fidelma. Sie scheint in der Lage, mühelos ganze Passagen aus der Heiligen Schrift zu zitieren. Woher stammte dieser Text jetzt gerade, aus dem Hohelied Salomos? Schwester Gorman blickte auf, und als ihre Augen erneut Fidelmas trafen, lächelte sie wieder - ein merkwürdiges, humorloses Lächeln, nur eine Bewegung ihrer Gesichtsmuskeln. Dann wandte sie sich ab und ging weg.