Schwester Ainder schnaubte und beendete das Gespräch. Doch dann wandte sie sich noch einmal um.
»Bruder Bairne ist vermutlich der einzige, den ich außerdem noch von diesem Narrenschiff retten würde«, fügte sie hinzu. »Er hat eine gewisse Anlage zur Frömmigkeit, aber die anderen, Schwester Crella zum Beispiel, na, die ist wohl auch nicht besser als ihre Freundin Muirgel. Ich nehme es auf meinen Eid, daß wir auf diesem winzigen Schiff, das die Wogen durch-pflügt, alle sieben Todsünden an Bord haben, die der lebendige Gott verflucht hat. Es gibt Zorn und Geiz, Neid und Unmäßigkeit, Unkeuschheit und Stolz und Trägheit.«
Fidelma blickte die strenge Nonne mit unverhohlener Belustigung an.
»Hast du alle diese Sünden bei uns festgestellt?«
Schwester Ainders Miene wurde nicht freundlicher.
»Du wirst bemerken, daß die Unkeuschheit auf diesem Schiff an erster Stelle steht. Diese Sünde begehen anscheinend viele aus unserer Gruppe.«
»Ach ja?« Fidelma lächelte leise. »Gehöre ich auch zu denen, die dieser Sünde frönen?«
Schwester Ainder schüttelte den Kopf.
»O nein, Fidelma von Cashel. Du bist der schlimmsten Sünde unter diesen sieben schuldig - denn deine Sünde ist der Stolz. Mit Stolz verdeckt man die eigenen Fehler.«
Fidelma spürte, wie ihre Miene sich verhärtete. Hätte ihr Schwester Ainder eine der sechs anderen Sünden vorgeworfen, hätte sie ehrlich darüber lachen können, aber auf den Stolz war sie nicht gefaßt. Der Stich schmerzte, weil Fidelma sich selbst schon lange darum Sorgen machte. Sie war tatsächlich stolz auf ihre Fähigkeiten, aber das war keine Eitelkeit. Darin bestand ein Unterschied. Doch sie war sich dessen nie ganz sicher. Sie hielt falsche Bescheidenheit für schlimmer als den Stolz auf die eigenen Erfolge.
Schwester Ainder lächelte zufrieden, als sie den Widerstreit in Fidelmas Miene beobachtete.
»Sprüche Salomos, Schwester Fidelma«, erklärte sie. »Sprüche sechzehn, Vers achtzehn: >Wer zu Grunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.<«
Fidelma errötete vor Zorn.
»Und welche Sünde gestehst du ein, Ainder von Moville?« fragte sie gereizt.
Schwester Ainder lächelte dünn.
»Ich halte alle Gebote des Herrn«, erwiderte sie selbstsicher.
Fidelma hob leicht die Brauen.
»Wer Rotz an der Backe hat, freut sich über den Rotz an der Backe des anderen«, sagte sie rücksichtlos.
Es war ein altes ländliches Sprichwort, das Fidelma einmal von einem Bauern gehört hatte. Es war grob und kräftig, doch Fidelma ärgerte sich plötzlich über diese eingebildete Frau und sprach es unbedacht aus.
Schwester Ainder schäumte vor Wut bei dieser Ungezogenheit.
Fidelma hörte, wie der nahe dabeistehende Murchad vor Vergnügen wieherte. Diese Art von Humor genoß er.
Doch kaum hatte Fidelma das Sprichwort losgelassen, bereute sie es und wollte sich dafür entschuldigen, daß sie sich hatte von ihrem Zorn hinreißen lassen. Aber Schwester Ainder war schon davonstolziert.
Schuldbewußt schaute Fidelma den Kapitän an. Murchad grinste noch und unterdrückte ein Lachen.
»Tut mir leid, Lady, aber du hast recht. Die Frau ist voll von genau dem Stolz, den sie dir vorwirft.«
Fidelma war dankbar für seine Unterstützung, aber immer noch reuevoll.
»Im Zorn gesprochene Worte, ob sie nun richtig sind oder nicht, haben meistens keine Wirkung, außerdem .«
Sie wurde von einem Schrei unterbrochen. Es war kein Ruf des Ausgucks, sondern ein Warnschrei. Jemand auf dem Hauptdeck, anscheinend Bruder Bair-ne, hatte ihn ausgestoßen. Er zeigte nach vorn.
Auf dem Vorderdeck standen sich zwei Gestalten gegenüber, Schwester Crella und dicht vor ihr Bruder Guss. Er wich vor ihr zurück in einer beinahe unterwürfigen Haltung. Bruder Bairne wollte ihn mit seinem Ruf warnen, weil Guss rückwärts gehend der Reling gefährlich nahe kam.
Der Warnschrei kam zu spät.
Bruder Guss taumelte an der Steuerbordkante und fiel mit einem Angstschrei rücklings ins Meer.
Schwester Crella stand da und schien mit ausgestreckten Händen auf die Stelle zu weisen, wo er über Bord gefallen war.
Murchad brüllte: »Mann über Bord!«
Viele an Deck, auch Fidelma, rannten zur Steuerbordseite. Das Schiff machte schnelle Fahrt, und sie sahen, wie Bruder Guss’ Kopf beunruhigend rasch achteraus verschwand.
»Klar zum Halsen!« rief Murchad.
Wie durch Zauber war die Mannschaft zur Stelle und holte das Segel ein, während Gurvan und der andere Rudergänger sich gegen das Steuerruder stemmten und das Schiff mit anscheinend unglaublicher Langsamkeit in einem weiten Bogen drehten.
Fidelma war über das Hauptdeck zu dem kleinen Vorderdeck gelaufen.
Schwester Crella stand noch dort. Sie hatte sich jetzt vorgebeugt und die Arme um die Schultern geschlungen. Sie sah Fidelma auf sich zukommen. Ihr Gesicht war weiß, die Augen hatte sie weit aufgerissen. Der Schock stand ihr deutlich im Gesicht.
»Er ... er fiel ...« setzte sie hilflos an.
»Was hast du zu ihm gesagt?« fuhr Fidelma sie an. »Was waren deine Worte?«
Crella starrte sie an, als habe sie die Sprache verloren.
»Er wich vor dir zurück, hast du ihm gedroht?« drang Fidelma in sie.
»Gedroht?« Schwester Crella schaute sie verwirrt an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Warum ist er dann so angstvoll rückwärts von dir weg gegangen, daß er über Bord fiel?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Was hast du zu ihm gesagt?«
»Ich hab ihm gesagt, ich wüßte von der siebenten Vereinigung, weiter nichts.«
»Wovon?« Fidelma tappte im dunkeln.
»Das solltest du doch wissen«, erwiderte Schwester Crella und riß sich zusammen. Sie setzte eine trotzige Miene auf. »Jetzt laß mich in Ruhe. Sie werden ihn gleich rausfischen, und dann kannst du ihn selber fragen.«
Schwester Crella schob sich an Fidelma vorbei und rannte davon.
Fidelma eilte zu Murchad zurück. Seeleute und Passagiere standen auf beiden Seiten an der Reling und spähten nach Guss aus.
»Können wir ihn retten?« fragte Fidelma atemlos, als sie Murchad erreichte.
Der Kapitän schaute düster drein.
»Ich fürchte, wir sehen ihn überhaupt nicht mehr.«
»Was? Wir kamen doch so dicht an ihm vorbei.«
Der Kapitän blieb bei seiner trüben Stimmung.
»Auch wenn wir sofort die Segel gerefft und gewendet haben, sind wir doch ein ganzes Stück von der Stelle entfernt, an der er hineingefallen ist. Ich segle in meinem Kielwasser zurück, aber ich finde keine Spur von ihm.«
Er blickte zu dem Ausguck im Mastkorb hinauf.
»Siehst du was, Hoel?« rief er ihn an.
Der verneinte.
»Wir suchen, solange wir können. Er hat nur eine Chance, wenn er ein ausdauernder Schwimmer ist.«
Fidelma schaute hinüber zu Bruder Bairne, der auch sorgenvoll die See musterte.
»Weißt du, ob Guss gut schwimmen kann?« fragte sie.
Bruder Bairne schüttelte den Kopf.
»Selbst ein guter Schwimmer hält es in diesem Meer nicht lange aus.«
»Ich versuche mein Bestes«, meinte Murchad. »Mehr kann ich nicht tun.«
Fidelma trat zu Bruder Bairne.
»Als du den Warnruf ausgestoßen hast, was hast du da gesehen?« fragte sie ihn so leise, daß die anderen es nicht hören konnten.
»Gesehen? Ich schrie eine Warnung, weil Guss zu dicht an den Rand taumelte.«
»Hast du gesehen, warum er sich rückwärts in diese gefährliche Stellung begab?«
»Ich glaube nicht, daß er das wahrgenommen hat.«
Fidelma wurde ungeduldig.
»Hast du gesehen, daß Schwester Crella ihn bedroht hat?« Bruder Bairne machte ein verstörtes Gesicht.
»Schwester Crella ihn bedroht? Meinst du das im Ernst?«
»Du hast doch bemerkt, daß Schwester Crella mit ihm auf dem Vorderdeck stand?«