»Natürlich. Sie sprachen miteinander, und dann ging Bruder Guss rückwärts, ein bißchen schnell, wie mir schien. Ich warnte ihn mit meinem Ruf, aber er stolperte und fiel.« Bruder Bairne schaute ihr mit einiger Verwirrung ins Gesicht.
»Vielen Dank«, sagte Fidelma. »Ich wollte nur wissen, was du gesehen hast, weiter nichts.«
Mit gesenktem Kopf ging sie nachdenklich zurück zum Achterdeck. Die Minuten verstrichen, und alle wurden immer bedrückter. Erst eine Stunde später brach Murchad die Suche ab.
»Ich fürchte, wir können nichts mehr für den armen Jungen tun«, erklärte er Cian, der wieder seine Führungsrolle in der Gruppe herausstrich. »Ich nehme an, er ist beinahe sofort untergegangen. Es gibt keine Hoffnung mehr. Es tut mir sehr leid.«
Fidelma ging nach unten zu Schwester Crellas Kajüte.
Schwester Crella lag auf der Koje und starrte an die Decke. Als Fidelma eintrat, setzte sie sich mit hoffnungsvollem Gesicht auf, doch sobald sie Fidelmas grimmige Miene sah, versteinerte ihre eigene.
»Murchad hat die Suche nach Bruder Guss aufgegeben«, erklärte Fidelma. »Es besteht keine Hoffnung mehr, ihn noch lebend zu bergen.«
Schwester Crellas Gesicht blieb unbewegt.
»Vielleicht sagst du mir jetzt, was du gemeint hast?« fuhr Fidelma fort.
Schwester Crella antwortete mit gepreßter Stimme »Für eine dalaigh wie dich sollte es doch leicht zu verstehen sein, was die siebente Vereinigung bedeutet.«
»Die siebente Vereinigung?« Jetzt begriff Fidelma. »Meinst du die siebente Form der Vereinigung von Mann und Frau? Den Rechtsausdruck für heimliche sexuelle Beziehungen?«
Schwester Crella schloß die Augen und gab keine Antwort.
»Ja, ich kenne das Gesetz über die siebente Vereinigung«, meinte Fidelma, »aber es enthält nichts, was ich mit Bruder Guss in Zusammenhang bringen könnte. Warum hat er auf diese Weise reagiert?«
»Ich habe ihm nur gesagt, ich wüßte, wie er Muirgel belästigt hat.« Mit trotzigem Blick fügte sie hinzu:
»Weißt du, ich glaube, Guss hat sie umgebracht, weil sie auf seine Annäherungsversuche nicht einging.«
Fidelma setzte sich auf einen Stuhl.
»Belästigt? Das ist ein interessantes Wort.«
»Wie soll man es denn sonst nennen, wenn jemand versucht, einem anderen Menschen seine Gefühle aufzudrängen?« wollte Schwester Crella wissen.
»Also du glaubst, Bruder Guss wollte Schwester Muirgel seine Gefühle aufdrängen und sie ist nicht darauf eingegangen?«
»Natürlich. Er war völlig verknallt in sie - genau wie Bruder Bairne. Muirgel wollte nichts mit ihm zu tun haben. Da bin ich mir sicher.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
»Weil Muirgel meine Freundin war. Ich hab dir schon gesagt: Zwischen uns gab es keine Geheimnisse.«
»Trotzdem hat Muirgel dir nicht erzählt, daß sie für ihr Leben fürchtete und sich auf dem Schiff versteckt hielt, nicht wahr? Wenn es kein Verhältnis gab, warum hat Muirgel dann Guss gebeten, sie zu verbergen -selbst vor dir?«
Crella starrte Fidelma zornig an.
»Guss hat Lügen über Muirgel verbreitet.«
»Wie erklärst du es dann, daß es Guss war, an den sich Muirgel wandte, als sie sich bedroht fühlte?« be-harrte Fidelma. »Daß es Guss war, der ihr half, sich die beiden letzten Tage zu verstecken?«
»Dieser Milchbart hat behauptet, er wäre Muirgels Liebhaber. Deswegen habe ich ihm die siebente Vereinigung vorgehalten.«
Plötzlich beugte sie sich nieder, holte mit einer fließenden Bewegung unter der Koje ein langes, schmales Messer hervor, stand auf und reckte es Fidelma entgegen. Fidelma war rasch auf den Beinen und reagierte blitzschnell in der Annahme, sie müsse sich gegen einen Angriff wehren. Doch Schwester Crella stand nur da und starrte auf das Messer. Dann hielt sie Fidelma den Griff hin.
»Hier, nimm es.«
Fidelma war überrascht.
»Na los!« fauchte Schwester Crella. »Nimm’s schon! Du siehst ja, daß noch getrocknetes Blut dran ist.«
»Was ist das?«
»Das Messer, mit dem wahrscheinlich meine arme Freundin umgebracht wurde, was sonst?«
Fidelma nahm ihr vorsichtig das Messer aus der Hand. Es stimmte, daß getrocknetes Blut an der Klinge haftete. Ob es wirklich die Tatwaffe war, konnte sie nicht wissen. Andererseits konnte sie auch nicht beweisen, daß es nicht die Mordwaffe war. Es war ein Messer, wie man es gewöhnlich zum Fleischschneiden benutzte.
»Wieso vermutest du, daß dies die Tatwaffe ist?« Sie formulierte die Frage vorsichtig. »Wie kommst du zu dem Messer?«
»Bruder Guss hat es in meine Kajüte geschmuggelt.« Crella schluckte. »Ich war zum Frühstück gegangen. Dann kamst du dazu und berichtetest von Muirgels Tod. Als ich zurückkehrte, stieß ich im Gang auf Guss. Mir gefiel es nicht, wie er mich anstarrte. Er schob sich an mir vorbei und stieg an Deck. Ich ging weiter in meine Kajüte. Da fand ich dann das Messer.«
Fidelma richtete den Blick auf die Koje; von dort, wo sie stand, konnte man nicht unter die Koje sehen.
»Wo war es versteckt?« fragte sie.
»Unter der Koje.«
»Wie hast du es entdeckt?«
»Durch Zufall.«
»Auch durch Zufall kann man nicht durch feste Gegenstände hindurchschauen! Von keinem Punkt in diesem Raum wäre es zu erblicken, falls man nicht auf Knien unter der Koje nachsieht.«
Crella ließ sich nicht beirren.
»Ich kam zurück mit einem Apfel in der Hand. Als ich die Tür öffnete, fiel mir der Apfel herunter. Ich bückte mich und hob ihn auf, und dabei sah ich das Messer.«
»Du hast aber nicht selbst gesehen, daß Guss es dort hingelegt hat, nicht wahr? Aus deiner Schilderung geht nicht hervor, weshalb du ihn dafür verantwortlich machst.«
»Weil wir alle beim Frühstück saßen - mit einer Ausnahme. Bruder Guss war nicht da. Du behauptest, er sei in seiner Kajüte gewesen, aber ich sah ihn aus seiner Kajüte herauskommen. Guss hat versucht, mir den Mord an Muirgel anzuhängen. Allen hat er erzählt, ich hätte sie umgebracht.« Sie runzelte die Stirn. »Dir muß er es doch auch gesagt haben.«
»Von wem hast du gehört, er habe allen erklärt, du wärst die Mörderin?« wollte Fidelma wissen.
Crella zögerte. »Von Bruder Cian. Guss hatte es ihm gesagt, und Cian sagte es mir.«
»Was hast du da getan? Du hattest das Messer gefunden, und Cian hatte dir gesagt, daß Guss dich beschuldigte. Was geschah dann?«
»Ich war so wütend, daß ich an Deck stürmte und Guss zur Rede stellte.«
»Aber das Messer hast du in der Kajüte gelassen.«
»Woher weißt du das?«
»Weil du es nicht in der Hand hieltest, als du an Deck standest. Du hast eben erst unter die Koje gelangt und es hervorgeholt.«
»Dann habe ich es wohl da gelassen.«
»Daher ist es merkwürdig, daß du ihm nicht die Waffe vorgehalten hast. Wäre das nicht die normale Reaktion gewesen?«
»Das weiß ich nicht. Ich wollte ihm nur zu verstehen geben, daß ich sein Geschwätz von seinen sexuellen Beziehungen mit Muirgel kannte. Ich wollte ihn nur warnen, daß er mit solchen Behauptungen nicht durchkäme!«
»Und das ist er ja auch nicht, nicht wahr? Er hatte solche Angst vor dir, daß er zurückwich und über Bord fiel.« Schwester Crella wollte protestieren, doch Fidelma fuhr unerbittlich fort. »Ein wirklich kaltblütiger Mörder war dieser Bruder Guss, der nicht nur tötete, sondern auch falsche Spuren legte - und dann, als er vor aller Augen einer Frau gegenüberstand, so erschrocken war, daß er sich buchstäblich über Bord treiben ließ.«
Schwester Crella spürte den Sarkasmus in ihrer Stimme.
»Er hat das Messer bei mir versteckt, und er hat mich beschuldigt!«
»Schade, Bruder Guss können wir nun nicht mehr befragen«, bemerkte Fidelma trocken. »Mit seinem Tod ist anscheinend alles sauber erledigt.«