Crella sah sie mißtrauisch an.
»Ich weiß nicht, was du damit meinst.«
»Sag mal, weshalb bist du so sicher, daß Muirgel kein Verhältnis mit Guss hatte? Das verstehe ich immer noch nicht.«
Crella schob trotzig das Kinn vor.
»Du glaubst mir nicht?«
»Hatte Muirgel viele Liebesaffären?«
»Wir waren beide normale junge Frauen. Wir hatten beide unsere Liebesgeschichten.«
»Also hat sie dir immer anvertraut, mit wem sie ein Verhältnis hatte?«
Crella schnaubte unwillig.
»Natürlich.«
»Wann hat sie dir das letzte Mal von einer Affäre erzählt?«
»Das habe ich schon erwähnt. Sie hatte ein Verhältnis mit Cian. Ich hatte übrigens selbst ein kurzes Verhältnis mit Cian, bis ich von ihm genug hatte.«
»War es nicht in Wahrheit so, daß Cian dich Muir-gels wegen fallengelassen hat?«
Crella lief rot an.
»Mich läßt niemand fallen.«
»Hat dich das nicht eifersüchtig und zornig gemacht?«
»Nicht so sehr, daß ich sie umgebracht hätte! Werd nicht albern. Wir haben oft unsere Liebhaber getauscht. Wir waren Kusinen und enge Freundinnen, vergiß das nicht.«
»Und du meinst, sie habe immer noch ein Verhältnis mit Cian gehabt und nicht mit Guss?«
»Nicht mit Guss, aber ich glaube, sie und Cian hatten einen Streit, kurz bevor wir von Moville aufbrachen.«
»Weshalb bist du so sicher, daß sie kein Verhältnis mit Guss hatte? Trotz Muirgels offen gezeigten freizügigen Ansichten?«
»Weil sie es mir gesagt hätte«, erwiderte Crella hartnäckig. »Guss wäre der letzte gewesen, mit dem sie sich eingelassen hätte. Er war zu ernst. Für mich liegt es auf der Hand, daß Guss sich in sie verknallte, sie ihn abwies und er daraufhin ihren Tod plante und sie umbrachte.«
»Wie erklärst du dir dann, warum und wie Muirgel sich zwei Tage auf diesem Schiff versteckte und alle glauben machen wollte, sie sei über Bord gespült worden?«
»Vielleicht wollte sie so Guss’ unwillkommenen Nachstellungen entgehen.«
»Warum hat sie dich dann nicht in das Geheimnis eingeweiht? Tut mir leid, Crella, aber es gibt Beweise dafür, daß Guss tatsächlich ihr Geliebter war. Es geht noch um eine andere Sache. Wie erklärst du dir das mit Schwester Canair?«
Fidelma sah dabei Crella tief in die Augen, um ihre Reaktion zu prüfen.
Es war nur ein leichter Ausdruck von Verwunderung zu bemerken.
»Schwester Canair? Was ist mit ihr?«
»Behauptest du, daß Guss sie auch umgebracht hat?«
Schwester Crellas Verwunderung nahm zu und war nicht geheuchelt.
»Wie kommst du darauf, daß Schwester Canair umgebracht wurde?« wollte sie wissen. »Du bist doch erst zu uns gestoßen, als wir schon ausliefen. Woher weißt du überhaupt etwas von Schwester Canair?«
Fidelma betrachtete Crella einige Augenblicke, dann lächelte sie leicht.
»Keine Ursache«, sagte sie und beendete das Thema. »Gar keine Ursache.«
Sie drehte sich um und verließ die Kajüte, das Messer in der Hand.
Entweder sagte Schwester Crella die Wahrheit oder ... Fidelma schüttelte den Kopf. Dies war der undurchsichtigste Fall, mit dem sie bisher zu tun gehabt hatte. Sagte Schwester Crella die Wahrheit, dann mußte Guss ein außerordentlicher Lügner gewesen sein. Sagte Bruder Guss die Wahrheit, dann mußte Crella lügen. Wer sagte die Wahrheit? Wer log? Sie hatte gelernt, daß die Wahrheit groß sei und sich immer durchsetze. Aber in diesem Fall hatte sie keine Ahnung, woran sie die Wahrheit erkennen sollte.
Es hätte keinen Zweck, Crella die ganze Geschichte zu unterbreiten, die Guss erzählt hatte. Sie würde einfach leugnen, falls sie schuldig war, und ohne weitere Beweise führte das zu nichts. Anscheinend war Fidelma in eine Sackgasse geraten.
Kapitel 16
Murchad wies auf die dunkle Küstenlinie, die sich aus dem Dunst über See abhob.
»Das ist die Insel Ushant.«
»Es sieht wie eine große Insel aus«, bemerkte Fidelma neben ihm. In den letzten Stunden hatte sie über die Geschichte nachgedacht, die Guss ihr vom Tod der Schwester Canair erzählt hatte und von seiner und Muirgels Verwicklung darin. Hatte man Muirgel umgebracht, weil sie eine Zeugin war? Oder hatte Guss recht und es gab ein anderes Motiv? Und wenn das Motiv wirklich Eifersucht war, konnte Crella dann die Mörderin sein? War Guss deswegen zu Tode gekommen? Fidelma wußte, daß Crellas Wahrheit nicht mit der Wahrheit von Bruder Guss übereinstimmte, aber sie besaß keine sicheren Beweise.
Vor ungefähr einer Stunde hatten sie einen Gottesdienst für Schwester Muirgel abgehalten und ihre Leiche dem Meer übergeben. Es war der zweite Gottesdienst für sie, und er war bedrückter und zurückhaltender als der erste. Zugleich hatten sie einen Gedenkgottesdienst für den armen Bruder Guss gehalten und seine Seele der Obhut Gottes empfohlen. Es war seltsam zu wissen, daß ein Mensch unter ihnen nicht die Gesinnung teilte, die in den Gebeten ausgesprochen wurde. Nun war es später Nachmittag, die Sonne stand tief am Westhimmel, an dem sich Wolken ballten. Es wurde kühler, und am Horizont war die dunkle Küstenlinie immer deutlicher geworden. Sie mußte mehrere Meilen lang sein.
»Es ist eine große Insel«, bestätigte der Kapitän. »Und eine gefährliche. Aber ich glaube, wir haben Glück.«
Fidelma sah ihn überrascht an.
»Glück? In welcher Hinsicht?«
»Dieser Dunst . Der könnte sich leicht in einen plötzlichen Nebel verwandeln, wie oft hier um Us-hant herum, und außerdem gibt es starke Strömungen und unzählige Riffe, und bei ungünstigem Wind läuft man Gefahr, entweder auf die Riffe oder an die felsige, zerrissene Küste getrieben zu werden. Ein Sturm kann hier eine Woche oder zehn Tage ohne Unterbrechung dauern.«
Selbst in dem Dunst machte die niedrige schwarze Küstenlinie, auf die sie zuhielten, einen finsteren Eindruck. Berge waren nicht zu sehen. Fidelma schätzte den höchsten Punkt der Insel auf nicht mehr als sechzig Meter, aber das ferne Klatschen und Zischen der Wellen, die sich an den Felsen des Ufers brachen, wirkte bedrohlich. Es schien eine sehr unwirtliche Insel zu sein.
»Weißt du, wo du landen kannst?« fragte sie. »Ich sehe nur eine undurchdringliche Felsenwand.«
Murchad verzog das Gesicht.
»Wir werden bestimmt nicht versuchen, an dieser Küste zu landen. Dies ist die Nordküste. Wir müssen nach Süden segeln, um eine Spitze herum in eine weite Bucht, wo auch die größte Ansiedlung liegt. Dort gibt es eine Kirche, die vor hundert Jahren vom heiligen Paul Aurelian, einem Briten, erbaut wurde.«
Er zeigte hinüber. »Wir müssen das Vorgebirge dort umrunden - siehst du es? Von wo das Schiff auf uns zu kommt.«
Fidelma folgte seinem ausgestreckten Arm und erblickte ein fernes Schiff, das hinter dem dunklen Vorgebirge hervorkam und auf sie zu kreuzte. Eine Stimme rief etwas vom Mastkorb.
Murchad trat einen Schritt vor und schrie ärgerlich: »Das sehen wir auch schon. Das hättest du uns vor zehn Minuten sagen müssen!«
Gurvan kam vom Bug her.
»Es ist ein Rahsegler aus Montroulez.«
»Das ist der Typ des Schiffes. Das sagt uns noch nicht, wer es führt«, antwortete Murchad. »Ein Ausguck ist nutzlos, wenn er die Decksmannschaft nicht auf dem laufenden hält.«
Fidelma konnte jetzt das viereckige Segel erkennen, das dem der »Ringelgans« ähnelte.
Gurvan, der mit Drogan am Steuerruder stand, spähte nach vorn und versuchte Einzelheiten des aufkommenden Schiffes auszumachen.
»Mit dem ist was nicht in Ordnung, Kapitän«, rief er.
Murchad betrachtete das andere Schiff stirnrunzelnd.
»Das Segel ist schlecht gesetzt und zieht es zu dicht an den Wind«, murmelte er. »So kann man ein Schiff nicht führen.«
Fidelma verstand zwar nicht, was an dem anderen Schiff verkehrt war, verließ sich aber darauf, daß die geübten Augen Murchads und Gurvans die Fehler der anderen Seeleute feststellen könnten.