»Die beiden haben Glück gehabt, schätze ich. Ich hole gleich mal einen Schnaps, damit dem Herrn hier wieder warm wird.«
»Eine gute Idee, mein Junge«, lobte ihn der Gerettete.
»Wie heißt du?« fragte ihn Fidelma höflich.
»Das sage ich dem Kapitän«, antwortete er wegwerfend.
Fidelma fuhr herum und wollte ihn für seine schlechten Manieren tadeln. Dabei glitt das Kreuz an der goldenen Kette in den Ausschnitt ihrer Kutte. Dieser alte dynastische Orden der Eoghanacht war ihr von ihrem Bruder, König Colgü von Cashel, verliehen worden. Das goldene Kreuz funkelte in der Sonne. Später war sich Fidelma nicht mehr sicher, ob sie nicht im Unterbewußtsein die Bewegung absichtlich gemacht hatte. Jedenfalls übte sie eine starke Wirkung auf den Mann aus.
Seine Augen weiteten sich, und er starrte sie an. Es war das Abzeichen der Niadh Nasc, des Ordens der Goldenen Halskette, einer ehrwürdigen Adelsbruderschaft von Muman, die aus der alten Kriegergarde der Könige von Cashel hervorgegangen war. Die Mitgliedschaft wurde vom Eoghanacht-König von Cashel persönlich verliehen, und jeder Ausgezeichnete schwor ihm persönliche Treue. Zum Zeichen dessen trug er ein Kreuz, das aus einem alten Sonnensymbol abgeleitet war, denn es hieß, der Ursprung des Ordens läge in dunkler Vorzeit. Einige Geschichtsschreiber behaupteten, er sei fast tausend Jahre vor Christi Geburt gegründet worden.
Der Mann aus Laigin wußte, daß keine gewöhnliche Nonne ein solches Zeichen trug. Er erinnerte sich anscheinend auch, daß der Junge sie mit »Lady« angeredet hatte. Nun räusperte er sich verlegen und verneigte sich.
»Ich vergesse meine Manieren, Lady. Ich bin Toca Nia vom Clan Baoiscne. Ich befehligte früher einmal die Leibwache Faelans, des verstorbenen Königs von Laigin. Mit wem spreche ich?«
»Ich bin Fidelma von Cashel.«
Sein Erstaunen war offenkundig.
»Die Schwester Colgüs von Cashel? Die dalaigh, die in dem Streit zwischen Muman und Laigin auftrat und ...«
»Colgü ist mein Bruder«, unterbrach sie ihn.
»Ich kenne deinen Ruf, Lady.«
»Ich bin nur eine Anwältin und Nonne auf der Pilgerfahrt nach Iberia.«
»»Nur?« Toca Nia lachte entwaffnend. »Jetzt ist mir klar, daß ich dich schon einmal gesehen habe, aber ich habe dich erst wiedererkannt, als du deinen Namen nanntest.«
Jetzt war die Reihe an Fidelma, überrascht zu sein.
»Ich erinnere mich nicht, daß wir uns schon begegnet sind.«
»Das kannst du auch nicht, denn wir haben uns nicht wirklich kennengelernt«, erklärte er. »Ich sah dich nur in der überfüllten Halle einer Abtei. Es war in der Abtei von Ros Ailithir, vor mehr als einem Jahr. Nach dem Tode meines Königs Faelan blieb ich noch eine Weile im Dienst des jungen Königs von Laigin, Fianamail. Ich begleitete ihn, den Abt Noe von Fearna und den Brehon Fornassach zur Abtei, wo du die Verschwörung aufdecktest, mit der Laigin und Muman zum Krieg gegeneinander getrieben werden sollten.«
Das schien Fidelma schon ein ganzes Leben zurückzuliegen. War das tatsächlich erst vor einem Jahr gewesen?
»Ein eigenartiger Ort, an dem wir uns wiedertreffen«, bemerkte sie höflich. »Wie geht es Fianamail, dem König von Laigin? Ein feuriger und ungestümer junger Mann, wie ich mich erinnere.«
Toca Nia lächelte und nickte.
»Nach Ros Ailithir verließ ich seinen Dienst. Ich glaube, ich hatte genug vom Krieg und vom Kriegerleben. Ich hatte gehört, daß der Fürst von Montroulez einen Ausbilder für seine Pferde suchte. Auf dem Gebiet hatte ich guten Erfolg. Ich verbrachte ein Jahr an seinem Hof und war auf dem Rückweg nach Laigin, als ...«
Mit einer beredten Handbewegung wies er auf das Meer. Diese Geste holte Fidelma in die Gegenwart zurück. Sie wandte sich um und sah zu ihrer Überraschung, daß die Reihe der gezackten Felsen schon weit in die Ferne gerückt war.
Wieder einmal hatte Murchad sein Können bewiesen und sein Schiff aus der Gefahr herausmanövriert.
Gerade kam Murchad vom Achterdeck her mit raschen Schritten auf sie zu.
Toca Nia begrüßte ihn.
»Hast du Verletzungen erlitten?« erkundigte sich Murchad und musterte den kräftig gebauten Krieger mit durchdringendem Blick.
»Keine, dank des rechtzeitigen Eingreifens von dir und deiner Mannschaft, Kapitän.«
»Und deine Gefährten?«
Wenbrit trat vor und antwortete für ihn.
»Zwei Matrosen von der Mannschaft. Einer hat kaum etwas abbekommen, der andere wird ein paar Tage brauchen, bis er wiederhergestellt ist. Sein Kopf ist auf einen Felsen aufgeschlagen.«
»Auf welchem Schiff wart ihr?« fragte Murchad den Überlebenden.
»Das Schiff hieß >Morvaout< - wir würden es wohl >Kormoran< nennen, glaube ich.«
Murchad sah ihn scharf an.
»War es ein Pilgerschiff?«
Toca Nia lächelte. »Ein Handelsschiff mit einer Ladung Wein und Olivenöl nach Laigin, und mit mir.«
Fidelma schaltete sich ein.
»Dies ist Toca Nia, der frühere Kommandeur der Leibgarde des Königs von Laigin und zuletzt der Ausbilder der Pferde des Fürsten von . welches Fürsten?«
»Montroulez ist ein kleines Fürstentum auf dem Festland, an der Nordküste von Klein-Britannien.«
»Was hat sich euer Kapitän dabei gedacht, als er sein Schiff in so gefährliches Wasser steuerte?« war Murchads nächste Frage.
Der frühere Krieger zuckte die Achseln.
»Der Kapitän starb vor zwei Tagen. Deshalb lief das Schiff auf Südkurs nach Ushant, statt direkt nördlich nach Laigin zu steuern. Der Steuermann hatte das Kommando übernommen, aber ich fürchte, er war wohl kein fähiger Seemann und wurde auch mit einigen aus der Mannschaft nicht fertig. Sie gehorchten seinen Befehlen nicht. Er war zu sehr dem Apfelwein zugetan.«
»Heißt das, daß die Mannschaft meuterte?« fragte Fidelma.
»So etwas Ähnliches, Lady.«
»Waren die Überlebenden auch daran beteiligt?« wollte Murchad wissen. »Ich will keine Meuterer auf meinem Schiff haben.«
»Das könnte ich nicht sagen. Nach dem Tod des Kapitäns ging viel durcheinander.«
»Woran starb er? Wurde er bei der Meuterei umgebracht?«
»Er fiel einfach am Steuer tot um. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ich habe manchmal solche unerklärlichen Todesfälle erlebt, vor und sogar nach der Schlacht. Tod nicht durch Wunden, sondern weil das Herz stillstand.«
»Und der Kapitän war der einzige tüchtige Seemann an Bord?« wollte Murchad wissen. »Das ist aber seltsam.«
»Seltsam oder nicht, das Ergebnis hast du gesehen. Zum Glück warst du da, sonst wäre ich nicht mehr am Leben. Kapitän, ich brauche eine Überfahrt nach Laigin.«
Murchad schüttelte den Kopf.
»Wir sind auf einer Pilgerreise zum Schrein des heiligen Jakobus. Ardmore werden wir wohl frühestens in drei Wochen wiedersehen. Aber wir laufen Ushant an. Dort wirst du bald ein Schiff finden, das dich nach Hause bringt.«
Der frühere Krieger lächelte trübe.
»Ich werde wohl ein paar von diesen Klunkern verkaufen müssen.« Er wies auf die Ringe an seiner Hand. »Der Verdienst eines Jahres liegt irgendwo dort auf dem Meeresgrund.« Mit dem Daumen zeigte er zurück auf die Klippen. »Ich besitze nur noch, was ihr an mir seht. Na ja, vielleicht kann ich einen Schiffer überreden, mich als Matrosen anzuheuern.«
Murchad betrachtete ihn zweifelnd.
»Hast du seemännische Erfahrung?«
Der Mann lachte schallend.
»Bei allen Schlachtengöttern, überhaupt keine. Ich bin ein guter Krieger. Ich kenne mich in Strategie und Waffenkunde aus. Ich liebe Pferde und kann sie ausbilden. Ich spreche drei Sprachen. Ich kann lesen und schreiben und sogar etwas in Ogham ritzen. Aber in der Seefahrt habe ich überhaupt keine Erfahrung.«
Murchad verzog den Mund.
»Na, dann wirst du dir wohl in Ushant eine Überfahrt suchen müssen. Ihr entschuldigt mich?« Er ging zurück zu seinen Pflichten.