»Na, ich schon gar nicht, Lady.«
»Ich werde mit Cian reden«, erklärte Fidelma und erhob sich. »Als erstes müssen wir hören, was er dazu zu sagen hat.«
Cian hatte es sich in halb sitzender Stellung auf seiner Koje bequem gemacht und hielt sich ein blutgetränktes Tuch vor die Nase. Die Kajüte, die er mit Bruder Bairne teilte, war dunkel. Eine Laterne schwang an einem Haken an der Decke hin und her und warf ein unruhiges, flackerndes Licht. Offensichtlich hatte ihm noch niemand etwas von Toca Nias Anschuldigung gesagt. Er nahm den Lappen von der Nase und begrüßte Fidelma mit einem schiefen Lächeln.
»Unser schiffbrüchiger Seemann hat eine merkwürdige Art, seinen Rettern Dankbarkeit zu bezeigen«, meinte er ironisch.
Fidelmas Miene blieb ausdruckslos.
»Ich nehme an, du hast den Mann nicht erkannt?«
Cian zuckte die Achseln und verzog schmerzvoll das Gesicht.
»Hätte ich ihn erkennen sollen?«
»Sein Name ist Toca Nia.«
»Nie gehört.«
»Er ist kein Seemann, sondern war Passagier auf dem gesunkenen Schiff. Er war Krieger bei Faelan von Laigin.«
Cian reagierte wegwerfend.
»Na, ich kenne nicht alle Krieger der fünf Königreiche. Was hat er gegen mich?«
»Ich dachte, du kennst ihn, weil er dich kennt.«
»Wie heißt er noch mal?« fragte Cian.
»Toca Nia.«
Cian dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf.
»Toca Nia von Rath Bile«, fügte Fidelma kalt hinzu.
Ohne Zweifel bedeutete dieser Zusatz etwas für Cian.
»Würdest du mir davon berichten?« fuhr Fidelma fort.
»Worüber genau?«
»Über das, was in Rath Bile geschah.«
»In Rath Bile wurde ich am Arm verwundet.« In seiner Stimme klang Bitterkeit mit.
»Was tatest du in Rath Bile?«
»Ich stand im Dienste des Großkönigs.«
»Ich glaube, das muß ich ein bißchen genauer wissen, Cian.«
»Ich befehligte eine Schar der Leibgarde des Großkönigs. Wir führten dort ein Gefecht, und ich bekam einen Pfeil in den Oberarm.«
Fidelma holte tief Atem.
»Ich möchte nicht jede Einzelheit aus dir herausquetschen müssen.«
»Was genau wirft mir dieser Toca Nia denn vor?«
»Er behauptet, du seist der >Schlächter von Rath Bile<. Er sagt, du gabst den Befehl, ungefähr hunder-tundvierzig Männer, Frauen und Kinder niederzumetzeln und das Dorf und die Burg in Brand zu stek-ken. Ist da etwas Wahres dran?«
»Hat Toca Nia dir auch gesagt, wie viele Krieger des Großkönigs dort gefallen sind?« konterte Cian zornig.
»Das ist keine Entschuldigung. Wenn diese Krieger das Dorf und die Burg angriffen, dann war es ihre Entscheidung, sich der Gefahr auszusetzen. Der Tod von Frauen und Kindern ist nicht gegen ihren Tod aufzurechnen. Es gibt keine Rechtfertigung für ein Massaker.«
»Wie kannst du das behaupten?« widersprach Cian. »Es ist gerechtfertigt, wenn der Großkönig es will!«
»Das ist eine schöne Moral, Cian. Das ist überhaupt keine Rechtfertigung. Ich würde dir dringend raten, mir zu sagen, was geschah, sonst muß man annehmen, daß Toca Nias Anschuldigungen stimmen und du für das Massaker verantwortlich bist.«
»Sie stimmen nicht! Sie stimmen ganz und gar nicht!« rief Cian in hilflosem Zorn.
»Dann erzähl mir deine Version der Geschichte. Es gab einen Grenzstreit zwischen dem Großkönig und dem König von Laigin, nicht wahr?«
Cian stimmte widerwillig zu.
»Der Großkönig meinte, die Ui Cheithig, die um Cloncurry herum ansässig sind, sollten Tribut direkt an ihn entrichten. Der König von Laigin behauptete, er sei ihr Lehensherr. Der Großkönig hielt dagegen, der Tribut sei an Stelle von boramha zu zahlen.« Cian benutzte einen alten Ausdruck, der Rinder-Berechnung bedeutete.
»Das verstehe ich nicht«, erklärte ihm Fidelma.
»Das geht zurück auf die Zeit, als Großkönig Tua-thal der Rechtmäßige in Tara herrschte. Tuathal hatte zwei Töchter. Es wird erzählt, daß damals Eochaidh Mac Eachach der König von Laigin war. Er heiratete die ältere Tochter Tuathals, doch dann stellte er fest, daß sie ihm nicht so gut gefiel wie die jüngere Tochter. Also kehrte er an den Hof Tuathals zurück, gab vor, seine erste Frau sei gestorben, und war so in der Lage, die zweite Tochter zu heiraten.«
Cian hielt inne und grinste trotz seiner ernsten Lage.
»Er war schon ein gerissener alter Knabe, dieser König Eochaidh.«
Fidelma schwieg dazu. Sie fand den Betrug gar nicht komisch.
»Nun«, fuhr Cian fort, »irgendwann erfuhren die beiden Töchter natürlich die Wahrheit. Die jüngere Tochter stellte fest, daß sie ungesetzlich verheiratet war, denn ihre Schwester lebte ja noch. Als sie merkten, daß sie beide denselben Gatten hatten, sollen sie vor Scham gestorben sein.« Er unterbrach sich wieder und grinste. »Was für eine Dummheit! Jedenfalls kam die Geschichte ihrem Vater, dem Großkönig, zu Ohren, und aus Rache marschierte er mit seinem Heer in Laigin ein, stellte Eochaidh zur Schlacht, erschlug ihn und verwüstete das Land.
Die Männer von Laigin baten um Frieden und ver-pflichteten sich, einen jährlichen Tribut zu zahlen, vorwiegend in Rindern. Von der Zeit an forderten die Ui Neill als Nachfolger Tuathals diesen boramha oder Rindertribut, mußten ihn aber oft mit Gewalt erzwingen. Deshalb gab uns Blathmac den Befehl, nach Süden zu ziehen und Rath Bile dem Erdboden gleichzumachen zum Zeichen dafür, daß er entschlossen war, diesen Tribut vom König von Laigin einzufordern.«
»Aber war nicht schon ein Abkommen geschlossen worden?« wandte Fidelma ein. »Seid ihr nicht nach dem Süden gezogen, nachdem die beiden Könige sich verständigt hatten?«
Cian antwortete mit einer ungeduldigen Geste.
»Einem Krieger kommt es nicht zu, seine Befehle in Frage zu stellen, Fidelma. Ich hatte Befehl, nach dem Süden zu ziehen, also tat ich es.«
»Du gibst zu, daß du die Schar befehligt hast?«
»Natürlich habe ich das. Das leugne ich doch nicht! Aber ich hatte den gültigen Auftrag vom Großkönig. Ich ging dorthin, um den Tribut zu erzwingen.«
»Selbst der Großkönig steht nicht über dem Gesetz, Cian. Was geschah dann weiter?«
»Wir fuhren auf vier Schiffen, vier Fünfzigschaften der Fianna der Großkönigs. Wir waren die Elite seiner Leibgarde. Wir landeten im Hafen der Ui Enechglais und marschierten nach Westen über den Fluß Sleine, bis wir Rath Bile erreichten. Der Bruder des Königs von Laigin weigerte sich, Burg und Dorf zu übergeben.«
»Also habt ihr angegriffen?«
»Wir griffen an«, bestätigte Cian. »Auf Befehl des Großkönigs.«
»Gibst du zu, daß du und deine Krieger auch Frauen und Kinder erschlagen haben?«
»Als unsere Männer vorgingen, konnten wir uns nicht erst erkundigen, wer unser Feind war und wer nicht. Die Leute kämpften gegen uns, beschossen uns mit Pfeilen, ob sie nun Krieger oder Greise oder sogar Frauen und Kinder waren. Es war unsere Aufgabe, den Auftrag auszuführen und unsere rechtmäßigen Befehle zu befolgen.«
Fidelma erwog die Geschichte eine Weile. Die Situation auf der »Ringelgans« wurde immer verzwickter. Das Rätsel um den Mord an Schwester Muirgel war schlimm genug, und dann kam noch die Behauptung Bruder Guss’ hinzu, Schwester Canair sei ebenfalls ermordet worden, noch bevor das Schiff auslief. Nun stand sie vor einer zusätzlichen Schwierigkeit durch Toca Nias Anschuldigung gegen Cian.
»Das ist eine ernste Angelegenheit, Cian. Sie muß vor den Oberrichter und den Gerichtshof des Großkönigs gebracht werden. Ich weiß wenig vom Kriegsrecht. Das muß ein berufenerer Richter beurteilen. Ich weiß, daß es Umstände gibt, unter denen das Töten von Menschen gerechtfertigt ist und nicht unter Strafe steht. Es verstößt nicht gegen das Gesetz, in der Schlacht zu töten - oder auch einen Dieb zu töten, der auf frischer Tat ertappt wird. Aber die Entscheidung liegt bei einem Gerichtshof.«