Sie kamen zu dem Dorf, einem typischen Hafenort, der sich um eine graue Steinkapelle in der Mitte gruppierte.
»Das ist meine kleine Kapelle.« Pater Pol zeigte auf das Gebäude. »Kommt, sprechen wir gemeinsam ein Dankgebet für eure glückliche Ankunft.«
Murchad hüstelte diskret.
»Es gibt etwas, das wir dringend besprechen müßten«, setzte er an.
Pater Pol legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm.
»Nichts ist so dringend, daß ein Dankgebet nicht Vorrang davor hätte«, meinte er bestimmt.
Murchad schaute Fidelma an und zuckte die Achseln.
Sie gingen in die kleine Kapelle und knieten vor dem Altar nieder, der Fidelma durch seine Pracht überraschte. Sie hatte geglaubt, die Insel sei arm, doch hier glänzten Gold und Silber auf der seidenen Altardecke.
»Du hast anscheinend eine reiche Gemeinde, Pater«, flüsterte sie.
»Arm an Gütern, aber reich im Herzen«, erwiderte der Priester nachsichtig. »Sie spenden, was sie haben, dem Hause Gottes, um seine Größe zu rühmen. Dominus optimo maximo ...«
Er sah nicht, wie sie mißbilligend die Mundwinkel herabzog. Sie hielt nichts von müßiger Pracht, wenn die Menschen in Armut lebten.
Pater Pol neigte den Kopf und sprach ein lateinisches Gebet, zu dem sie jeweils ihr »Amen« beisteuerten.
Danach führte er sie in sein kleines Haus neben der Kirche und bot ihnen Apfelwein in Steingutbechern an, während Murchad die Angelegenheit von Toca Nia und Cian erläuterte.
Pater Pol rieb sich nachdenklich die Nase. Das schien eine Angewohnheit von ihm zu sein.
»Quid faciendum?« fragte er, als Murchad geendet hatte. »Was ist zu tun?«
»Wir hofften, daß du einen Vorschlag hättest«, antwortete Murchad. »Ich kann Toca Nia und Cian nicht den ganzen Weg nach Iberia und zurück nach Laigin auf meinem Schiff behalten. Man hat mir erklärt, daß über diese Anschuldigungen vor einem sachkundigen Richter in Eireann verhandelt werden muß, doch ich kann die beiden nicht direkt dorthin bringen, ich kann mir aber auch nicht leisten, zu warten, bis ein Schiff in Ushant anlegt, das dorthin will.«
»Warum solltest du das eine oder das andere tun?«
»Weil«, schaltete sich Fidelma vorsichtig ein, »Toca Nia seine Anklage vor einem Gericht in Eireann erheben muß. Ich glaube, Murchad hofft, du könntest beide hier sicher verwahren, bis das nächste Schiff nach Eireann hier einläuft.«
Pater Pol erwog das eine Weile und machte dann eine ablehnende Geste.
»Wer weiß, wann das ist? Jedenfalls könnt ihr doch kaum von einem Glaubensbruder verlangen, daß er eine Pilgerfahrt aufgibt, um sich gegenüber diesen Anschuldigungen zu verantworten? Was weißt du vom Recht, Schwester?«
»Schwester Fidelma ist Anwältin bei Gericht«, erklärte Murchad eilig.
Pater Pol sah sie interessiert an.
»Bist du Kirchenjuristin?«
»Ich kenne die Bußgesetze, bin aber Anwältin nach unseren alten weltlichen Gesetzen.«
Pater Pol schien enttäuscht.
»Aber das Kirchenrecht hat doch sicher Vorrang vor dem weltlichen Gesetz? In diesem Fall brauchtest du diese Anschuldigungen gar nicht zu berücksichtigen?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»So verfährt die Rechtsprechung in unserem Land nicht, Pater. Toca Nia hat eine der schwersten Anschuldigungen erhoben, die denkbar sind. Cian muß sich dagegen verteidigen.«
Pater Pol überlegte eine Weile und schüttelte dann ablehnend den Kopf.
»Als Führer der hiesigen Gemeinschaft wie als Vertreter der Kirche muß ich sagen, daß euer Gesetz auf dieser Insel nicht gilt. Ich kann nichts tun. Wenn Bruder Cian oder Toca Nia oder beide aus freiem Willen euer Schiff verlassen und hier bleiben wollen, bis ein Schiff nach Eireann ankommt, dann können sie das tun. Wenn sie woandershin reisen wollen, können sie das auch tun. Ich kann ihnen aber nichts vorschreiben oder sie hier festhalten, solange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen, die auf dieser Insel gelten. Ihr müßt entscheiden, was das Beste ist.«
Murchad war sichtlich unglücklich.
»Es scheint«, sagte Fidelma zu ihm, »daß dir nur eine Wahl bleibt. Dein Schiff ist dein Königreich, Murchad, du herrschst dort unbeschränkt nach den Gesetzen der Fenechus. Es ist deine Schuldigkeit, Ci-an und Toca Nia auf deinem Schiff zu behalten und späterhin nach Eireann zurückzubringen.«
Murchad wollte etwas einwenden, doch Fidelma hob abwehrend die Hand.
»Ich sagte, es ist deine Schuldigkeit. Ich habe nicht gesagt, du bist dazu verpflichtet. Du mußt darüber entscheiden, was geschehen soll. Ich kann dir nur raten.«
Der Kapitän schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Es ist eine schwierige Entscheidung. Wer entschädigt mich für das alles? Cian wird sich bestimmt weigern, seine Rückfahrt zu bezahlen, wenn er sie unter Zwang antreten muß, und Toca Nias Schmuck reicht auch nicht für das Fahrgeld. Ich muß nicht nur an mein eigenes Wohl denken, verstehst du, sondern auch an das meiner Mannschaft, die ernährt werden muß und ihre Familien zu unterhalten hat.«
»Wenn Toca Nias Anschuldigungen sich als berechtigt erweisen, dann müßte dich der König von Laigin entschädigen. Wenn nicht, kannst du eine Zwangsvollstreckung gegen Toca Nia beantragen.«
Murchad kämpfte immer noch mit sich.
»Ich glaube nicht, daß er über genügend Geld oder Grundbesitz verfügt. Das muß ich mir noch mal überlegen.«
Pater Pol klatschte in die Hände, um das Thema abzuschließen.
»Und während du das tust, Freund Murchad, können deine Passagiere an Land kommen, sich von den Strapazen der Seereise erholen und mit uns das Fest des großen Märtyrers meines Landes, Justus, feiern.«
»Das ist nett von dir, Pater Pol«, murmelte Murchad, der nach wie vor mit seinem Problem beschäftigt war.
»Ich möchte dir ebenfalls danken, Pater«, fügte Fidelma hinzu. »Es ist sehr freundlich von dir, daß du dir diese Mühe mit unseren Angelegenheiten machst.« Sie hielt inne. »Das Fest des Justus? Ich kenne verschiedene große Kirchenmänner dieses Namens, aber von einem Justus aus dieser Gegend habe ich noch nicht gehört.«
»Er wurde schon als Knabe getötet«, erläuterte Pater Pol. »Es geschah während der Christenverfolgungen unter Kaiser Diocletian. Er soll zwei andere Christen vor den römischen Soldaten versteckt haben und wurde deshalb getötet.«
Pater Pol erhob sich langsam, und Murchad und Fidelma folgten seinem Beispiel ebenso wie Gurvan, der sich am Gespräch nicht beteiligt hatte.
»Ich vermute, du willst frisches Wasser, Brot und andere Vorräte übernehmen?«
Der Kapitän bestätigte dies.
»Gurvan wird sich darum kümmern, Pater, und ich bringe meine Passagiere an Land, damit sie sich die Beine vertreten können.«
»Unser Gottesdienst für Justus beginnt bei Sonnenuntergang, und das Fest schließt sich daran an.«
Sie verabschiedeten sich für den Augenblick von dem Priester und gingen langsam zurück zum Kai. Murchad war in düsterer Stimmung wegen der Aussicht, Cian und Toca Nia bis zu seiner Rückkehr nach Ardmore an Bord behalten zu müssen, meinte aber resigniert, es sei wohl das einzige, was ihm unter diesen Umständen übrigbliebe.
»Ich glaube, du hast eine weise Entscheidung getroffen, Murchad«, tröstete ihn Fidelma. »Mehr Sorgen macht mir die Sache mit Schwester Muirgel, denn ich habe noch nie zuvor vor einem Problem gestanden, bei dem ich auch nicht einen einzigen Weg sah, den ich auf der Suche nach einer Lösung einschlagen könnte.«
Kapitel 18
Fidelma erwachte plötzlich mit heftig klopfendem Herzen. Es war dunkel, und sie wußte nicht, was sie mit solch einem Ruck geweckt hatte. Sie fühlte sich erschöpft: Es war ein langer Tag gewesen. Alle waren an Land gegangen mit Ausnahme von Cian und Toca Nia, die unter Bewachung in ihren Kajüten bleiben mußten. Die schiffbrüchigen Matrosen waren an Land gebracht worden, und die Pilger und einige Besatzungsmitglieder hatten den Gottesdienst und das Fest des Justus besucht. Es wurde Mitternacht, bis alle wieder an Bord waren; in Lampaul war niemand über Nacht geblieben, denn Murchad hatte angekündigt, er werde mit der Ebbe am Morgen auslaufen. Die Vorräte waren schon alle geladen worden. Je schneller er Iberia erreichte, meinte er zu Fidelma, desto eher könne er seine beiden lästigen Passagiere nach Ardmore zurückschaffen.