Während Fidelma noch überlegte, was sie wohl geweckt hatte, hörte sie ein merkwürdiges kratzendes Geräusch, das aus dem Raum unter den Decksplanken ihrer Kajüte zu kommen schien. Verwundert richtete sie sich auf. Dann fiel ihr ein, was Wenbrit gesagt hatte. Ratten und Mäuse bevölkerten die unteren Räume des Schiffes.
Sie langte nach dem schweren warmen Knäuel am Fußende ihrer Koje und streichelte das schwarze Fell des Katers.
»Nun mach schon, Mäuseherr«, flüsterte sie. »Gehst du nicht ziemlich säumig deiner Pflicht nach?«
Der Kater rollte sich auf und streckte sich zu voller Länge. Es überraschte Fidelma immer wieder, wie lang sich Katzen machen konnten. Das Tier gab ein merkwürdig zirpendes Geräusch von sich, mehr wie ein Vogel denn wie eine Katze, glitt von der Koje, schlich durch den Raum, sprang zum Fenster hoch und verschwand.
Das Kratzen hörte bald auf, und Fidelma erschauerte leicht, als sie an die Ratten in der Dunkelheit unter ihr dachte, von denen sie nur einige Planken trennten. Sie horchte angespannt. Jetzt war alles still. Vielleicht waren sie fort. Mäuseherr löste seine nächtlichen Aufgaben anscheinend sehr gründlich.
Gähnend ließ sie sich wieder in die Kissen fallen und schlief sofort ein. Gleich darauf, so schien es ihr, wurde sie von Gurvan wachgerüttelt. Der Steuermann war sichtlich beunruhigt.
»Komm bitte in die nächste Kajüte, Lady«, flüsterte er kaum hörbar.
Fidelma zog sich die Kutte um die Schultern und schwang sich aus der Koje. Gurvans Miene hatte ihr deutlich gesagt, daß keine Zeit mit unnützen Fragen zu verlieren war. Ihr fiel ein, daß es sich um Gurvans Kajüte handelte, in der Toca Nia eingesperrt war.
Gurvan stand im Gang und hielt ihr die Tür zu seiner Kajüte auf. In dem kleinen Raum brannte eine Laterne, denn die Morgendämmerung hatte noch nicht begonnen. Fidelma blickte hinein.
Toca Nia lag auf dem Rücken mit weit offenen Augen, seine Brust blutig zerfetzt.
»Mehrere Einstiche in der Herzgegend, würde ich sagen«, murmelte Gurvan hinter ihr, als brauche sie eine Erklärung.
Fidelma stand einen Augenblick wie gelähmt da.
»Ist Murchad verständigt?« fragte sie dann.
»Ich habe ihm Bescheid sagen lassen«, antwortete Gurvan. »Vorsicht, Lady, auf dem Boden ist viel Blut.«
Sie schaute hin und sah, daß der ganze Boden blutig war. Es war schon jemand hineingetreten, vermutlich Gurvan, aber ihr kam ein Gedanke.
»Bleib dort stehen«, ermahnte sie ihn. Dann ging sie zur Tür und verfolgte die klebrigen Spuren auf dem Boden. Offensichtlich war Gurvan über die ersten Abdrücke gelaufen, die von dem Mörder stammen mußten. Die Abdrücke gingen bis zu ihrer Kajütentür und nicht weiter. Das verblüffte Fidelma. Sie hätte gedacht, die Spuren würden zum Ausgang auf das Hauptdeck führen. Sie öffnete die Tür ihrer Kajüte. Ein paar schwächere Abdrücke zeigten, wo Gurvan bei ihr eingetreten war. Der Mörder hatte wohl erkannt, daß er eine Spur hinterließ, und sich das Blut von den Sohlen abgewischt, bevor er vom Tatort verschwand.
Instinktiv schaute sie in dem Beutel nach, in den sie das Messer getan hatte, das ihr Crella gegeben hatte. Es war fort. Sie ging zurück zu Gurvan.
»Schick am besten mal jemand zu Cians Kajüte«, schlug sie vor. Unter den gegebenen Umständen war dies das Naheliegendste.
Im selben Moment kam Murchad den Gang entlang. In seiner Miene drückte sich tiefe Besorgnis aus. Er hatte Fidelmas Anweisung gehört.
»Ich habe schon nach Cian geschickt, Lady. Sobald ich die Nachricht bekam, wußte ich, daß du ihn sprechen wolltest. Aber er ist nicht mehr an Bord.«
»Was?« Fidelma hätte nie gedacht, daß Cian so etwas Dummes tun würde. Dann wurde ihr klar, daß sie nie ganz begriffen hatte, was in Cian vorging und welcher Logik er folgte.
»Drogan ist zu seiner Kajüte gegangen. Der Mann, der dort Wache halten sollte, schlief. Bairne, mit dem er die Kajüte teilt, erklärte, er habe nicht gehört, daß er hinausging. Ich glaube, meinem Matrosen können wir keinen Vorwurf machen. Wir sind es nicht gewohnt, Gefangene zu bewachen.«
Fidelma war nicht an Entschuldigungen interessiert.
»Wir müssen das noch einmal nachprüfen«, sagte sie bestimmt. »Würdest du das bitte tun, Gurvan?«
Der Steuermann ging sofort daran.
»Es scheint ziemlich klar, was passiert ist«, murmelte Murchad mit einem Blick auf Toca Nias Leiche.
»Cian hat seinen Ankläger getötet und ist an Land geflohen.«
Das schien die einzige logische Erklärung zu sein. Fidelma seufzte resigniert.
»So sieht es aus«, gab sie zu. »Aber er muß doch wissen, daß die Insel zu klein ist, als daß er sich darauf verstecken könnte. Es ist und bleibt eine Insel. Früher oder später finden wir ihn. Ich ziehe mich an. Wir müssen an Land und sofort nach Cian suchen.«
Murchad, Gurvan und Fidelma stiegen am Kai aus dem Skiff. Niemand regte sich im grauen Licht des frühen Morgens. Sie gingen sogleich den Pfad zur Kirche hinauf, und zu ihrer Überraschung löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Tür und begrüßte sie. Es war Pater Pol. Seine Miene war ernst.
»Ich weiß, wen ihr sucht«, sagte er.
Fidelma antwortete mit gleichem Ernst.
»Hat er dir gesagt, weshalb er hierher geflohen ist?« fragte sie.
»Ich weiß, wessen man ihn beschuldigt«, erwiderte der Priester.
»Weißt du, wo er ist? Es würde uns helfen, wenn du uns das sagen kannst, dann brauchen wir nicht Zeit damit zu verschwenden, die Insel nach ihm abzusuchen.«
»Das braucht ihr nicht, Schwester. Solche eine Suche würde ich auch nicht erlauben. Bruder Cian ist in der Kirche.«
Sie wunderte sich über den barschen Ton des Priesters, der ganz anders war als am Vortag.
»Dann bringen wir ihn zurück auf die >Ringelgans<, damit er sich verteidigen kann.«
Der Priester hob die Hand und gebot ihnen Einhalt.
»Das kann ich nicht dulden.«
Fidelma schaute Pater Pol überrascht an.
»Du kannst es nicht dulden?« wiederholte sie belustigt. »Gestern sagtest du noch, Cians Lage ginge dich nichts an. Jetzt sagst du, wir dürfen Cian nicht auf das Schiff zurückbringen. Was ist das für eine Logik?«
»Ich habe das Recht, euch daran zu hindern, Cian fortzuführen.«
»Das Verbrechen wurde auf Murchads Schiff begangen, nicht auf deiner Insel. Die Gerichtsbarkeit liegt eindeutig bei Murchad.«
Der Priester schien einen Moment verwirrt, dann kreuzte er die Arme in unbeweglicher Haltung.
»Erstens hat Bruder Cian in diesem Hause Asyl gesucht«, verkündete er. »Zweitens liegt das sogenannte Verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, fünf Jahre zurück und wurde Hunderte von Meilen entfernt begangen. Ihr habt keine Befugnis, über solche Anschuldigungen an Bord eures Schiffes zu verhandeln. Das hast du gestern selbst gesagt.«
Murchad kratzte sich den Hinterkopf und schaute Fidelma ratsuchend an.
»Asyl?« fragte er unsicher. »Ich verstehe nicht ganz ...«
Pater Pol unterbrach ihn.
»Schwester Fidelma wird dir erklären, daß es im vierten Buch Mose steht, daß der Herr zu Mose sprach: >Und ihr sollt Städte auswählen, daß sie Freistädte seien, wohin fliehe, wer einen Totschlag unversehens tut. Und sollen unter euch solche Freistädte sein vor dem Bluträcher ...<«