»Ich brauchte Zeit zum Überlegen. Die Beschuldigung kam so plötzlich.«
Murchad unterbrach ihn barsch.
»Viel vordringender ist, daß man dich jetzt des Mordes an Toca Nia beschuldigt und du dich dagegen wehren mußt.«
Fidelma war derselben Meinung.
»Solange kein anderer Zeuge auftritt und dich anklagt, sind Toca Nias Beschuldigungen mit ihm gestorben. Deswegen können wir dich weder festsetzen noch dich zur Rechenschaft ziehen, denn er hat sie nicht gerichtlich zu Protokoll gegeben.«
Cian war total verblüfft.
»Heißt das, die Beschuldigung wegen Rath Bile fällt weg?«
»Toca Nia hat nicht offiziell Anklage erhoben, sie wurde weder niedergeschrieben noch durch Zeugen bestätigt. Die mündliche Beschuldigung eines Toten, falls sie nicht als sein letztes Wort zu verstehen und als solches von Zeugen beglaubigt ist, kann nicht als Beweismittel gegen dich verwendet werden.«
»Dann bin ich also von dieser Beschuldigung frei?«
»Es sei denn, es gibt andere Zeugen aus Rath Bile, die auftreten und gegen dich aussagen. Da keine hier sind, bist du davon frei.«
Auf Bruder Cians Gesicht trat ein breites Lächeln, doch dann besann er sich und wurde wieder ernst.
»Ich schwöre bei der Heiligen Dreifaltigkeit, daß ich Toca Nia nicht getötet habe.«
Fidelma hörte die Wahrheit aus seiner Stimme heraus, doch ihr persönliches Mißtrauen ließ sie an seinen Unschuldsbeteuerungen zweifeln. Was hatte Horaz einst gesagt? Naturam expellas furca, tamen usque re-curret - Treib die Natur mit der Forke hinaus: Stets kehret sie wieder. Cian war ein geborener Betrüger, und an der Wahrheit seiner Worte mußte man immer zweifeln. Mit einem leichten Schuldgefühl stellte sie fest, daß sie ihn schon wieder aus ihrem persönlichen Empfinden heraus verurteilte.
Sie setzte zum Sprechen an, als in der Nähe ein lauter Ruf ertönte.
Pater Pol sah stirnrunzelnd auf, als einer der Inselbewohner, ein schmächtiger Bursche in Fischerkleidung, um die Ecke der Kirche gerannt kam. Bei ihrem Anblick blieb er jäh stehen und rang nach Luft.
»Was ist los, Tibatto?« fragte Pater Pol unwirsch. »Du solltest wissen, daß man nicht so ungestüm zum Haus Gottes kommt.«
»Angelsachsen!« keuchte der junge Mann atemlos. »Angelsächsische Räuber!«
»Wo?« fragte der Priester nur, während Murchad entsetzt herumfuhr und nach dem Messer im Gurt langte.
»Ich war auf der Landspitze oberhalb Rochers .«
»An der Nordküste«, warf Pater Pol zu ihrer Erklärung dazwischen.
»Da sah ich ein angelsächsisches Schiff nach Süden auf die Bucht zu kreuzen. Es ist ein Kriegsschiff mit einem Blitz auf seinem Segel.«
Murchad wechselte einen raschen Blick mit Fidelma, die ebenso wie Cian aufgesprungen war.
»Wie bald werden sie in der Bucht sein?« fragte der Priester mit düsterer Miene.
»In einer Stunde, Pater.«
»Schlag Alarm. Wir führen die Leute ins Innere der Insel«, entschied er. »Komm, Murchad, bring deine Mannschaft und die Pilger an Land. Es gibt Höhlen, in denen wir uns verstecken und schlimmstenfalls auch verteidigen können.«
Murchad schüttelte entschlossen den Kopf.
»Ich überlasse mein Schiff keinem Piraten, ob Angelsachse, Franke oder Gote! Die Gezeiten wechseln gerade. Ich segle aus der Bucht heraus. Wenn einer meiner Passagiere an Land gehen will, ist das seine Entscheidung.«
Pater Pol starrte ihn einen Moment entgeistert an.
»Du schaffst es auf keinen Fall, in Fahrt zu kommen, bevor sie die Mündung der Bucht blockieren. Wenn sie schon auf der Höhe von Rochers sind, brauchen sie nur noch eine halbe Stunde, bis sie das Vorgebirge umrundet haben.«
»Lieber bin ich auf dem Schiff, als daß ich hier auf der Insel sitze und darauf warte, bis sie landen und alles niedermachen«, erwiderte Murchad. Er wandte sich an Gurvan. »Ist noch jemand an Land außer uns?«
»Niemand, Kapitän.«
»Kommst du mit, Lady?« fragte er Fidelma.
Sie zögerte keinen Augenblick.
»Wenn du versuchst, ihnen zu entkommen, dann bin ich dabei, Murchad.«
»Also los!«
Cian hatte daneben gestanden, während sie das besprachen. Jetzt trat er vor.
»Wartet! Nehmt mich mit.«
Murchad schaute ihn überrascht an.
»Ich dachte, du suchst Asyl«, spottete er.
»Ich sagte doch schon, ich suchte um Asyl nach, weil ich Zeit haben wollte, meine Verteidigung gegen die Beschuldigungen Toca Nias vorzubereiten.«
»Aber jetzt mußt du dich womöglich gegen die Beschuldigung, ihn ermordet zu haben, verteidigen«, gab ihm Fidelma zu bedenken.
»Darauf lasse ich es ankommen. Aber ich möchte nicht hier wehrlos diesen Räubern ausgeliefert sein. Nehmt mich mit.«
Murchad zuckte die Achseln. »Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Komm mit oder bleib hier. Wir gehen jetzt.«
Ein zorniges, warnendes Hornsignal ertönte. Als sie die Kirche verließen, sahen sie, wie die Leute in alle Richtungen auseinanderrannten, Frauen mit schreienden Kindern, Männer mit Waffen, die sie gerade zur Hand hatten.
Murchad verabschiedete sich von dem Priester.
»Viel Glück, Pater Pol. Ich glaube, dieses angelsächsische Schiff hat es hauptsächlich auf uns abgesehen, nicht auf deine Insel. Wir sind ihm schon einmal entkommen, vielleicht schaffen wir es wieder.«
Murchad führte sie rasch den Pfad hinunter zur Bucht.
Fidelma schaute sich um und sah Pater Pol sie mit erhobenem Arm segnen, dann verschwand er. Jetzt war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Menschen auf der Insel in Sicherheit gebracht wurden.
Wortlos eilten die vier den Pfad hinab zum Kai, wo ihr Skiff lag. Erst als sie im Boot saßen und Gurvan und Murchad sie mit kraftvollen Schlägen zur »Ringelgans« hinüberruderten, begegnete Cian dem forschenden Blick aus Fidelmas grünen Augen. Er hielt ihm stand, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich habe Toca Nia nicht umgebracht, Fidelma«, erklärte er ruhig. »Ich habe erst erfahren, daß er tot ist, als ihr zu Pater Pol kamt und es mir gesagt habt. Das schwöre ich.«
Beinahe glaubte ihm Fidelma, aber sie wollte sichergehen. Sie konnte Cian nie trauen, das hatte sie schon vor langer Zeit gelernt.
»Du wirst später noch genügend Zeit haben, deine Unschuld zu beweisen«, antwortete sie kurz.
Sie legten am Schiff an. Fidelma ging als vorletzte an Bord, denn Murchad war sofort an Deck gesprungen und brüllte Befehle. Gurvan folgte ihr als letzter und machte das Skiff fest.
»Alles seeklar?« rief Murchad, als Gurvan zu ihm auf das Achterdeck kam. Die Mannschaft war schon durch Murchads Zuruf gewarnt worden, als sie sich dem Schiff näherten.
»Jawohl, Kapitän«, antwortete der Steuermann und übernahm mit dem Matrosen Drogan das Steuerruder.
Fidelma stellte sich wie selbstverständlich neben Murchad.
»Was können wir tun, Murchad?« fragte sie und spähte zur Mündung der Bucht.
Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske, seine meergrauen Augen waren zusammengekniffen, so starrte er über die tief eingeschnittene Bucht. Sie konnten die dunklen Umrisse des angelsächsischen Schiffes erkennen, das das südliche Vorgebirge umrundete und ihr Entkommen aus der Bucht verhindern wollte. Von ihrem Ankerplatz waren es drei Kilometer bis zur Mündung der Bucht, die an der breitesten Stelle höchstens einen Kilometer maß. Die Seeräuber hatten genügend Zeit, jeden Fluchtversuch zu vereiteln.
»Sie sind hartnäckig, diese Teufel von Angelsachsen«, knurrte Murchad. »Das muß man ihnen lassen. Ihr Kapitän muß so viel Seeverstand gehabt haben, daß er merkte, daß wir neulich nachts hinter ihm kehrtgemacht haben. Daß er uns bis hierher verfolgen konnte, spricht für ihn.«
»Diesmal verbirgt uns keine Dunkelheit«, warf Fidelma ein.
Murchad schrie den Befehl, die Pilger sollten wieder unter Deck, denn Cian, sich selbst überlassen, war unter Deck gegangen und hatte seine Gefährten mit der Nachricht vom Auftauchen der Seeräuber aufgeschreckt. Dann blickte Murchad finster zum leicht diesigen blauen Himmel empor, über den lange Streifen kleiner weißer Wölkchen zogen.