Dann war der Felsen vorüber und das Schiff noch heil.
»Kannst du mal zurückschauen, Lady?« rief Gur-van. »Siehst du was von den Angelsachsen?«
Fidelma hielt sich an der Heckreling fest und spähte nach hinten.
Sie erschauerte, als sie das schäumende Kielwasser sah und wie die Riffe und Felsen vorbeiflogen. Dann hob sie den Blick in die Ferne.
»Da hinten ist das Segel der Angelsachsen«, rief sie aufgeregt. Sie hatte gerade das Zeichen des Blitzes auf dem Segel erkannt, auf das Murchad sie aufmerksam gemacht hatte.
»Da hinten sind sie«, rief sie noch einmal. »Sie folgen uns durch diese Durchfahrt.« Ihre Stimme war hoch vor Erregung.
»Dann möge ihnen ihr Gott Woden helfen«, antwortete Gurvan mit einem wilden Lachen.
»Möge Gott uns helfen«, flüsterte Fidelma.
Die »Ringelgans« rollte derartig, daß der Horizont sich heftig bewegte und sie das Segel des Verfolgers immer wieder aus dem Blick verlor.
Das Schiff stampfte und bockte beunruhigend. Gur-van und Drogan stemmten sich mit ganzer Kraft gegen das Steuerruder und riefen noch einen weiteren Mann zu Hilfe, weil sie den Druck nicht mehr bewältigten.
Murchad machte unentwegt Zeichen vom Bug, und die »Ringelgans« schoß in schwindelerregender Fahrt durch die schaumumtosten Felsen und Inselchen, bis sie schließlich in ruhigeres Wasser hinausgeschleudert wurde. Beinahe noch ehe sie wieder auf ebenem Kiel lag, kam Murchad mit besorgtem Gesicht aufs Achterdeck gerannt.
»Wo sind sie?« schnaufte er.
»Ich hab sie aus den Augen verloren«, antwortete Fidelma. »Sie folgten uns durch die felsige Durchfahrt.«
Mit zusammengekniffenen Augen spähte Murchad zurück zu der Felsenküste, die auf diese Entfernung unter einem feinen Dunst zu liegen schien.
»Gischt von den Felsen«, erklärte er ungefragt. »Da kann man schwer etwas ausmachen.«
Er schaute zu den schwarzen Zacken, die aus dem weißen Schaum herausragten.
Fidelma erschauerte, nicht zum erstenmal. Es war kaum zu glauben, daß sie unversehrt dieser Wasserhölle entronnen waren.
»Dort!« rief Murchad plötzlich. »Ich sehe sie!«
Fidelma strengte die Augen an, konnte aber nichts erkennen.
Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann seufzte Murchad.
»Ich dachte, einen Moment hätte ich ihren Großmast gesehen, aber jetzt ist er weg.«
»Wir haben einen guten Vorsprung, Kapitän«, rief Gurvan. »Sie müssen schon ganz schön schnell segeln, wenn sie uns einholen wollen.«
Murchad wandte sich um und schüttelte langsam den Kopf.
»Ich glaube, wegen denen brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen, mein Freund«, meinte er ruhig.
Fidelma blickte zurück auf die rasch verschwindende Küste der Insel. Von einem verfolgenden Schiff war nichts mehr zu entdecken.
»Meinst du, sie sind auf die Riffe geraten?« fragte sie.
»Hätten sie die Durchfahrt geschafft, würden wir sie jetzt schon sehen«, sagte Murchad düster. »Entweder wir oder sie, Lady. Gott sei Dank hat es sie erwischt. Nun sind sie in ihren heidnischen Heldenhimmel eingegangen.«
»Das ist ein schrecklicher Tod«, meinte Fidelma ernst.
»Tote beißen nicht mehr«, war Murchads einziger Kommentar.
Fidelma murmelte ein kurzes Gebet für die Ertrunkenen. Es war ein angelsächsisches Schiff, ob nun heidnisch oder nicht, und sie mußte an Bruder Eadulf denken.
Kapitel 19
»Heute ist ein sehr ruhiger Morgen, Murchad.«
Der Kapitän nickte, aber er war nicht erfreut. Vor zwei Tagen hatten sie Ushant verlassen. Er zeigte auf das schlaffe Segel.
»Zu ruhig«, beklagte er sich. »Es geht fast kein Wind. Wir kommen kaum voran.«
Fidelma blickte hinaus auf die glatte See. Sie kam auch nicht voran. Nachdem sie ihren Verfolgern entronnen waren, hatten sie Toca Nias Leiche dem Meer übergeben. Es war Bruder Dathal, der bemerkt hatte, ihre Seereise verwandle sich in eine Todesfahrt, als gehöre das Schiff dem alten irischen Totengott Donn, der die Seelen der Verstorbenen auf seinem Totenschiff sammelte und in die Andere Welt hinüberbrachte. Mit seinem Vergleich hatte sich Dathal sofort die Kritik von Bruder Tola und Schwester Ainder zugezogen, aber doch für eine düstere Stimmung unter den verbleibenden Pilgern gesorgt.
Immer wieder hatte Fidelma die Tatsachen erwogen und versucht, einen winzigen Faden zu finden, der zur Lösung des Rätsels führen könnte. Was den Mord an Toca Nia betraf, so schwor Cian, daß er das Schiff gleich nach Mitternacht verlassen habe, nachdem die letzten Passagiere und Matrosen von der Insel zurückgekehrt waren. Gurvan bestätigte, er habe einige Zeit später bei Toca Nia hineingeschaut und ihn friedlich schlafend vorgefunden. Wenn Cian über den Zeitpunkt, an dem er von Bord ging, die Wahrheit sagte, dann war er schuldlos.
Fidelma blickte zu den schlaffen Segeln auf und faßte einen Entschluß.
»Vielleicht können wir dieses Wetter doch noch gut nutzen«, meinte sie fröhlich.
»Wie das?« erkundigte sich Murchad.
»Ich habe schon seit Tagen nicht mehr gebadet. Auf Ushant hatte ich keine Zeit dazu, und ich fühle mich schmutzig. In dieser ruhigen See kann ich ein wenig schwimmen und mir den Dreck vom Körper spülen.«
Murchad schaute verlegen drein.
»Wir Seeleute sind daran gewöhnt, Lady. Aber wir haben keine Gelegenheit für Frauen zum Baden.«
Fidelma warf den Kopf zurück und lachte.
»Hab keine Angst, Murchad. Ich werde euer männliches Schamgefühl nicht verletzen. Ich behalte ein Hemd an.«
»Es ist zu gefährlich«, wandte er kopfschüttelnd ein.
»Wieso? Wenn deine Matrosen sich bei so ruhigem Wetter sauber schwimmen können, warum kann ich das dann nicht?«
»Meine Matrosen kennen die Tücken der See. Sie sind gute Schwimmer. Was ist, wenn Wind aufkommt? Das Schiff kann eine weite Strecke zurücklegen, bevor du wieder heranschwimmen kannst. Du hast doch gesehen, wie schnell der arme Bruder Guss achteraus trieb.«
»Die Gefahr ist doch dieselbe, ob man Matrose oder Passagier ist«, konterte Fidelma. »Was machen denn deine Leute?«
»Sie schwimmen an einem Tau festgebunden.«
»Dann mache ich das auch so.«
»Aber ...«
Murchad fing ihren Blick auf und las ihre Unnachgiebigkeit darin. Er seufzte tief.
»Na gut.« Er rief den Steuermann. »Gurvan!«
Der Bretone kam herbei.
»Fidelma will das ruhige Wetter nutzen und neben dem Schiff schwimmen. Sieh zu, daß man ihr ein Tau um den Leib bindet und an der Reling befestigt.«
Gurvan zog die Brauen hoch und öffnete den Mund, als wolle er protestieren, doch dann entschied er sich dagegen.
»Von wo aus willst du schwimmen, Lady?« fragte er resigniert.
Fidelma lächelte. »Welches ist die Leeseite? So nennt ihr doch die windgeschützte Seite des Schiffes?«
Gurvans Gesichtsmuskeln zuckten, und einen Moment schien es, als wolle er ihr Lächeln erwidern.
»Das stimmt, Lady«, antwortete er ernst. Er wies auf die Steuerbordseite. »Dort findest du ruhiges Wasser, wenn auch im Augenblick kein Wind weht. Aber wenn er aufkommt, denke ich, dann von Backbord.«
»Bist du ein Prophet, Gurvan?«
Der Bretone schüttelte den Kopf. »Siehst du die Wolken dort im Nordwesten? Die bringen uns bald Wind, also bleib nicht zu lange im Wasser.«
Fidelma trat an die Reling und blickte hinunter auf die See. Sie schien recht ruhig.
Sie wollte gerade ihre Kutte ausziehen, doch sie hielt inne, als sie Gurvans ängstliche Miene sah.
»Hab keine Angst, Gurvan«, sagte sie fröhlich. »Ich behalte meine Unterkleidung an.«
Trotz seines dunklen Teints schien Gurvan zu erröten.
»Halten Nonnen es nicht für eine Sünde, sich vor anderen zu entblößen?«
Fidelma verzog spöttisch das Gesicht und zitierte: »>Und der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir’s gesagt, daß du nackt bist?< Ich glaube, Gott wollte damit sagen, daß die Sünde im Geist des Betrachters liegt und nicht in seinem Blick.«