Murchad erschrak.
»Meinst du, wir haben einen mordlustigen Irren an Bord?«
»Wenn jemand vorsätzlich tötet, ist das immer ein Zeichen für einen gestörten Verstand, Murchad.«
»Hast du weiterhin Bruder Cian im Verdacht? Schließlich hatte kein anderer durch Toca Nias Tod etwas zu gewinnen. Deshalb muß er Schwester Muirgel ermordet und dann versucht haben, dich zum Schweigen zu bringen.«
Fidelma machte eine ablehnende Geste, als sie sich ihm gegenüber niederließ.
»Ich glaube nicht, daß diese Logik zwingend ist. Es könnte sein, daß der Mörder Toca Nias nicht derselbe ist, der Muirgel umgebracht hat. Es ist auch der Mord an Schwester Canair zu bedenken, für den wir allerdings nur die Aussage von Bruder Guss haben. Ich fürchte, daß jetzt, da Guss tot ist, seine Aussage als einziger Zeuge keinen Wert mehr hat. Der gleiche Umstand, der eine Verhaftung und Anklage Cians unmöglich macht, gilt auch für den Fall von Canair ... Wo sind die Zeugen? Doch von der Rechtslage abgesehen bin ich geneigt, anzunehmen, daß Guss die Wahrheit gesagt hat.«
»Meinst du damit, daß du Schwester Crella für die Schuldige hältst?«
»Sie könnte es sein. Die Widersprüche in ihrer Geschichte deuten darauf hin. Aber warum sollte sie mir etwas erzählen, was sich sofort widerlegen läßt? Hat sie gelogen, oder hat sie selbst geglaubt, es sei wahr? Vor allem, ich entdecke kein Motiv für die Tat.«
»Wie konnte das passieren?« fragte sich Murchad. »Bei einem Leben auf See ist man immer dem Tode nahe, aber nie dem Tod auf solche Art und Weise. Vielleicht ist diese Fahrt verhext. Ich hörte, wie Bruder Dathal so etwas sagte, daß sie wie eine Fahrt des Totengottes Donn wäre .«
Fidelma lächelte mit schmalem Mund.
»Aberglaube, Murchad, er sperrt die Welt in den Kerker der Furcht ein. Die Vernunft öffnet diesen Kerker. Es gibt eine logische Erklärung für jedes Geheimnis, und wir werden sie finden. Mit der Zeit.« Sie hielt inne und setzte dann hinzu: »Warst du ständig an Deck, während ich gebadet habe?«
»Ja. Ich sah, wie Gurvan dir ein Tau umband und es an der Reling befestigte. Dann sprangst du ins Meer. Glaub nicht, ich hätte mir nicht schon den Kopf darüber zerbrochen, ob ich gesehen habe, daß jemand zu dem Tau ging.«
»Gurvan kam zu dir, um etwas zu besprechen?«
»Genau wie er gesagt hat. Eine Weile blieb er an der Reling. Ich sah, wie er die Hand hob. Dann hat ihn Tola, der auf dem Deck umherging, in ein Gespräch verwickelt. Der Wind frischte auf, und er kam zu mir, und wir besprachen das. Ich sagte ihm, er solle dich hereinziehen, denn wir würden bald Fahrt aufnehmen.«
»Du hast nicht jemanden an Deck nahe dem Tau bemerkt?«
»Ein paar Matrosen waren in den Rahen. Mit denen habe ich schon gesprochen, während du dich umgezogen hast. Sie haben nichts gesehen. Wir rechneten mit Wind, und sie sollten das Segel trimmen, sobald er aufkam. Da war aber noch jemand ...« Er fuhr sich durchs Haar und überlegte. »Ich weiß nicht, wer es war.«
»Du kannst aber die Person doch sicher beschreiben?«
»Nicht genau, denn sie war auf dem Vorschiff und hatte diese Kapuze auf, du weißt schon .«
»Eine Mönchskapuze?«
»Ja, so eine, die den Kopf bedeckt.«
»Also jemand von den Pilgern? Kannst du sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war?«
»Nicht mal das könnte ich genau sagen, Lady.«
»Hast du gesehen, daß sie zur Reling ging?«
»Das könnte sein. Zu der Zeit war niemand sonst dort. Der Wind erhob sich, und ich gab der Mannschaft Anordnungen. Gurvan ging dann zurück zum Tau und merkte, daß da etwas verkehrt war. Die Gestalt in der Kutte war verschwunden, und ich nahm an, sie sei nun unter Deck.«
Murchad machte plötzlich ein Gesicht, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen.
»Ich weiß genau, sie kam nicht über den Achterschiffsniedergang zurück.«
Fidelma war verblüfft.
»Wie kann sie dann nach unten gelangt sein?«
»Wahrscheinlich durch die Vorderluke.«
»Aber dort kommt man doch nicht zu den unteren Decks, oder doch?«
»Es gibt eine kleine Luke gleich neben deiner Kajütentür, aber die benutzt keiner. Jedenfalls kein Passagier, denn sie führt nur zu den Stauräumen, und man müßte durch die hindurchgehen zu den anderen Bereichen im Schiff.«
»Aber es gibt einen Weg, auf dem man dort unter Deck und zu den Kajüten der Passagiere gelangen kann?« Als er das bejahte, stand sie auf und sagte: »Dann untersuchen wir ihn.«
Sie brauchten ein Licht, denn der kleine Gang zwischen Gurvans und Fidelmas Kajüten auf den beiden Seiten und dem Abtritt vorn war dunkel. Fidelma holte eine Lampe aus ihrer Kajüte. Der Kater Mäuseherr, zu einem weichen schwarzen Knäuel zusammengerollt, lag auf dem Fußende ihrer Koje und schlief. Fidelma zündete die Lampe an und kehrte zu Murchad zurück, der eine kleine Luke im Boden öffnete. Die war ihr vorher noch nicht aufgefallen. Es konnte sich immer nur eine Person hindurchzwängen.
»Du meinst, die wird nicht oft benutzt?«
»Selten.«
»Und von hier aus kann man das Schiff in seiner ganzen Länge und Breite erreichen?«
Murchad bejahte es.
Sie blieben am Fuße der Holztreppe in einem kleinen Stauraum stehen. Hier konnte man sich kaum aufrichten. Fidelma hob die Lampe und schaute sich um.
»Viel Staub«, murmelte sie. »Ich nehme an, der Raum wird nicht oft als Kajüte und nicht einmal zum Stauen benutzt?«
»Kaum jemals«, erwiderte Murchad. »Unsere Vorräte lagern größtenteils im nächsten Raum.«
Fidelma zeigte auf eine Reihe von Fußspuren auf dem Boden.
»Sicherlich hat Gurvan den Raum hier abgesucht, als er am zweiten Tag der Reise nach Schwester Muirgel forschte.« Als Murchad nickte, fuhr sie fort: »Und dann prüfte er nach dem Sturm, ob der Schiffsrumpf Schaden erlitten hatte?«
»Natürlich.«
Sie beugte sich nieder und leuchtete den Boden vor der Treppe ab, über die sie gekommen waren.
Es gab braune Flecke auf den Planken und unterhalb der letzten Stufe einen deutlichen Fußabdruck.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Murchad.
»Ich nehme an, du und Gurvan, ihr habt ungefähr die gleiche Größe, nicht wahr?« erkundigte sich Fidelma.
»Wahrscheinlich. Warum?«
»Setz deinen Fuß neben den Abdruck hier, Murchad. Aber daneben, nicht darauf.«
Murchad tat es. Sein Schuh war wesentlich größer.
»Das beweist mir, daß dieser Abdruck nicht von Gurvan gemacht stammt.«
»Und weiter?«
»Hier ist der Mörder Toca Nias in der Nacht entlanggekommen. Er schlich sich leise durchs Schiff und diese Treppe hoch. Ich wurde von dem Geräusch wach und dachte dummerweise, es wären Ratten oder Mäuse und schob Mäuseherr hinaus. Aber es war Toca Nias Mörder, der in seine Kajüte ging und ihn in wütendem Haß erstach. Davon lief das Blut bis auf den Boden und ihm über die Füße. Ich sah die Spuren, die auf den Gang hinausführten, und versuchte sie von Gurvans zu unterscheiden. Sie hörten plötzlich auf, und ich dachte, der Mörder hätte sich die Füße abgewischt, weil ich nichts von der verborgenen Luke wußte. Jetzt ist mir klar, daß er auf demselben Weg zu seinem Platz im Schiff zurückging.«
Murchad schüttelte ratlos den Kopf.
»Aber diese Flecke verraten dir nicht viel.«
»Im Gegenteil, der Fußabdruck hier unten verrät mir sehr viel.« Sie zeigte auf ihn, und zum erstenmal seit Tagen erfüllte sie Freude, weil sie endlich einen greifbaren Beweis gefunden hatte.
»Was sagt er dir?«
»Seine Größe enthüllt mir viel über die Person, die Toca Nia umbrachte. Und ich sehe allmählich einen Zusammenhang. Vielleicht gibt es gar nicht so viele Zufälle, wie wir denken. Die Person, die Toca Nia tötete, ist dieselbe, die Schwester Canair in Ardmore umbrachte und Schwester Muirgel erstach. Vielleicht . « Fidelma verstummte und dachte nach.