»Sie ist nur ein kleines Mädchen.«
»Es gibt ein altes Sprichwort, Murchad: Wenn ein gesunder Hund mit einem tollen Hund kämpft, dann wird eher dem gesunden Hund ein Ohr abgebissen.«
»Ich passe auf«, versicherte er ihr und fing an zu klettern.
Er war noch nicht weit gekommen, als Schwester Ainder einen Warnschrei ausstieß. Fidelma blickte auf.
Gorman hatte mit den Füßen den Halt verloren, hing verzweifelt mit einer Hand an einem Tau und versuchte, mit der anderen die Takelage zu fassen.
»Halt dich fest!« schrie Fidelma, doch ihr Ruf verflog im Wind.
Auch Murchad hatte es gesehen und beeilte sich. Doch er war kaum einen Meter höher gekommen, als Gormans Griff sich löste und sie mit einem dumpfen Laut auf dem Deck aufschlug.
Fidelma war als erste bei ihr.
Sie brauchte nicht mehr nach dem Puls zu fühlen. Es war klar, daß Gorman sich bei dem Fall das Genick gebrochen hatte. Fidelma beugte sich nieder und drückte ihr die starren Augen zu. Schwester Ainder sprach ein Totengebet.
Murchad war wieder heruntergeklettert und trat zu ihnen.
»Es tut mir leid«, keuchte er. »Ist sie .«
»Ja, sie ist tot. Du kannst nichts dafür«, sagte Fidelma und erhob sich.
Cian schaute Bruder Dathal über die Schulter und auf die Leiche des Mädchens hinunter.
»Na«, sagte er erleichtert, »das wäre das.«
Kapitel 22
Fidelma stand in der warmen Herbstsonne am Kai und atmete die exotischen Düfte der malerischen kleinen Hafenstadt ein, die sich im Schutz eines alten römischen Leuchtturms erstreckte, der als der »Turm des Herkules« bekannt war. Die »Ringelgans« lag am Kai vertäut. Die übriggebliebenen Passagiere hatten sich über Land auf ihre Pilgerschaft zum Schrein des heiligen Jakobus begeben. Fidelma hatte es abgelehnt, mit ihnen gemeinsam zu wandern, unter dem Vorwand, sie müsse einen Bericht über die Fahrt für den Oberrichter von Cashel verfassen, damit Murchad ihn auf der Rückreise gleich mitnehmen könne.
Schon eine Stunde, nachdem die »Ringelgans« in diesen Hafen an der Nordwestküste Iberias eingelaufen war, vielleicht demselben Hafen, von dem aus Go-lamh und die Kinder Gaels vor mehr als einem Jahrtausend nach Eireann übergesetzt hatten, war das Schlußdrama dieser Überfahrt vonstatten gegangen.
Cian war wieder vom Schiff verschwunden, aber diesmal mit Schwester Crella. Fidelma war davon nicht sonderlich überrascht.
»Erinnerst du dich noch, daß Cian vom Schiff auf die Insel Ushant geflohen ist?« fragte sie Murchad. »Es war klar, daß er dabei Hilfe gehabt hatte.«
Der Kapitän war verblüfft und sagte es auch.
»Ein Mann, der seinen rechten Arm nicht gebrauchen kann, ist nicht in der Lage, das Skiff zur Insel zu rudern, geschweige denn es zum Schiff zurückzubringen.«
Murchad schien beschämt, daß ihm das nicht aufgefallen war.
»Daran habe ich nicht gedacht.«
»Er mußte eine Komplizin haben. Er überredete Crella, ihm zu helfen, so wie jetzt auch. Vielleicht hätte ich versuchen sollen, sie davor zu warnen, sich noch einmal mit Cian einzulassen, aber ich glaube nicht, daß sie auf mich gehört hätte. Er wußte von jeher die Frauen zu nehmen. Wenn Not am Mann ist, kann er die Vögel auf den Bäumen bezaubern.«
»Wo wollen sie jetzt hin? Nach Eireann können sie doch sicher nicht zurück.«
»Wer weiß? Vielleicht ist er unterwegs zu dem Arzt Mormohec, um zu sehen, ob der seinen Arm heilen kann. Vielleicht auch nicht. Die arme Crella tut mir leid. Eines Tages wird sie ein böses Erwachen erleben.«
»Warum ist sie zu ihm zurückgekehrt, wenn er sie schon einmal als seine Geliebte abgelegt hat?« wollte Murchad wissen.
»Vielleicht hat sie noch nie davon gehört, daß man sich, wenn man einmal gebissen wurde, vor einem zweiten Biß in acht nehmen soll. Er wird sie abhängen, wenn er meint, er brauche sie nicht mehr. Wahrscheinlich werden wir ihn in Eireann nicht wiedersehen, aber nicht, weil er sich schuldig fühlt für das, was auf dieser Fahrt geschehen ist. Seine Arroganz hindert ihn daran, dafür irgendwelche Verantwortung zu übernehmen. Er wird sein Geburtsland meiden, um allen Zeugen aus dem Wege zu gehen, die ihn als den >Schlächter von Rath Bile< anklagen könnten.«
»Also wird er frei und ohne Strafe bleiben?«
»In solchen Dingen kommt oft der wirklich Schuldige straflos davon, und die werden bestraft, die er als seine Werkzeuge benutzt oder mit hineingezogen hat.«
Nicht lange danach war die überlebende Schar der Pilger unter der Führung von Bruder Tola aus der Hafenstadt aufgebrochen. Fidelma hatte beobachtet, wie Bruder Tola und Schwester Ainder sich in Gesellschaft von Bruder Dathal und Bruder Adamrae, die ihnen mit wenig Begeisterung folgten, auf den Weg gemacht hatten. Bruder Bairne begleitete sie, doch anscheinend ebenso widerwillig, wie sie seine Anwesenheit duldeten. Vergebung war offenbar kein Bestandteil des Glaubens, dem diese kleine Gruppe von Pilgern anhing.
Fidelma blieb in der Hafenstadt, während die Sturmschäden der »Ringelgans« repariert wurden. Sie nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Wirtshaus mit Blick auf den Hafen, ruhte sich aus, gewöhnte sich wieder an das Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben, und schrieb ihren Bericht. Als sie hörte, daß die »Ringelgans« zum Auslaufen bereit war, ging sie hinunter zum Kai.
Sie wollte sich an Bord von allen verabschieden, vor allem von Mäuseherr, für den sie am Kai Fische gekauft hatte. Der Kater hinkte leicht, schien sich aber von seiner Schnittwunde gut zu erholen. Er ließ sich von ihr streicheln und schnurrte ein bißchen, doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit wichtigeren Dingen zu, wie etwa den Fischen, die sie vor ihm aufs Deck gelegt hatte.
Auf dem nun schon vertrauten Achterdeck sprach sie mit Murchad.
»Wann brichst du zum heiligen Schrein auf, Lady? Es sind schon mehrere Pilgerscharen hier durchgekommen, seit wir angelegt haben. Ich hatte gedacht, du wärst bereits fort.«
Fidelma erwiderte unbesorgt, sie würde schon eine passende Gruppe finden.
»Es gibt ein altes Sprichwort, Murchad: Sieh dir die Gesellschaft an, bevor du dich zu ihr setzt. Die Reisenden, die du an Bord hattest, hätte ich mir nicht als Gefährten ausgesucht, wenn ich gewußt hätte, was passiert.«
Murchad lachte verständnisvoll, war aber weiterhin besorgt um sie.
»Willst du allein wandern? Ich habe ebenfalls ein Sprichwort für dich: Heißt es nicht, daß ein gesundes Schaf auch eine räudige Herde als Gesellschaft nicht verschmäht?«
Fidelma erlaubte sich ein mutwilliges Grinsen.
»Ich glaube, das hast du umgedreht, Murchad. Das Sprichwort lautet: Es gab noch nie ein räudiges Schaf, das nicht gern eine Herde als Gesellschaft hatte. Aber ich danke dir für den Rat. Nein, ich will hier noch ein paar Tage warten, denn durch diesen Hafen kommen viele Schafe. Ich werde sehen, ob eine Herde dabei ist, die mir gefällt. Aber vielleicht trete ich die Reise auch allein an, wie du vermutest.«
»Wäre das klug, Lady?«
»Wie ich höre, sind die Banditen zwischen hier und dem Schrein nicht sehr zahlreich. Ich bin sicher, die Gefahren der Landstraße sind nicht größer als die, die mir auf der >Ringelgans< drohten.«
Murchad schüttelte den Kopf.
»Ich weiß immer noch nicht, wie du herausgefunden hast, daß Schwester Gorman die Schuldige war, und was meine Frau Aoife damit zu tun hatte.«
»Es war nicht deine Frau, wie ich dir schon sagte, es war der Name Aoife und die Sage von Lir. In der Geschichte der Kinder von Lir war Aoife die zweite der drei Töchter des Königs von Aran. Aoife war schön, doch der Meeresgott Lir heiratete ihre jüngere Schwester Albha. Albha starb, und Lir heiratete darauf ihre ältere Schwester Niamh. Niamh starb ebenfalls, und schließlich heiratete Lir Aoife.«
»Ich kann mich dunkel an die Geschichte erinnern«, meinte Murchad ohne Überzeugung.