»Ich verstehe. Um auf die Mordnacht zurückzukommen: Ballgel hat die Festung gegen Mitternacht oder kurz darauf verlassen, stimmt das?«
»Ja.«
»Wann hat man die Leiche gefunden?«
»Einer der Dorfbewohner fand sie in aller Frühe beim Pilzesammeln.«
»Und kurz darauf sind sie gegen die Abtei gezogen. Warum?«
»Ich war nicht dabei.« Sirins Stimme klang nun ungewöhnlich barsch. »Ich habe Trauer, meine Schwester Berrach ebenso. Mein Cousin Brocc hat die Leute aufgewiegelt. Brocc hatte schon seine Nichte verloren.«
Becc mischte sich ein. »Es ist wahr. Sirin befand sich nicht unter den Leuten, die die Mönche bedrohten. Er und Berrach waren ganz sicher nicht dabei.«
Fidelma nickte, wandte sich aber weiterhin direkt an Sirin.
»Glaubst du, daß die Fremden in der Abtei die Täter sind?«
Sirins Gesicht blieb ausdruckslos. »Das weiß ich nicht. Viele behaupten, ja. Mir fehlen die Beweise dafür.«
»Hat sich dein Cousin mit dir über seinen Verdacht unterhalten?«
»Er mag die Fremden nicht, weil sie Fremde sind.«
»Du scheinst da anderer Ansicht zu sein«, sagte Fidelma.
»Ich möchte, daß die Schuldigen bestraft werden, doch zuerst muß festgestellt werden, ob sie wirklich schuldig sind.«
»Verdächtigst du sie oder jemand anderen? Was meinst du, warum hat man Ballgel ermordet?«
Sirin schüttelte den Kopf. »Ich glaube, daß nur ein wildes Tier oder ein Verrückter sie so schrecklich zugerichtet haben kann. Mehr weiß ich nicht. Doch ich sage dir noch eins, Schwester: Weiß ich erst einmal, wer schuldig ist, so will ich Rache. Erzähl mir nichts von Gerechtigkeit. Ich bin Christ, und hat nicht Paulus von Tarsus an die Galater geschrieben: >Denn was der Mensch sät, das wird er ernten<? Wer immer diese schreckliche Tat begangen hat, hat einen Dorn in mein Herz gesenkt. Und das wird ihm nicht gut bekommen.«
Fidelma hatte Mitleid, blickte den Koch aber dennoch mißbilligend an. »Neues Blut wird unser Blut nicht fortwaschen, Sirin.«
»Auge um Auge, Zahn um Zahn .«
Fidelma seufzte. »Nun dann, Sirin.«
Er wollte sich gerade von ihr abwenden, denn er glaubte wohl, daß sie ihre Befragung beendet hatte, da lehnte sich auf einmal Eadulf vor.
»Du hast gesagt, daß Brocc dein Cousin ist, Sirin. Bist du auch mit Adag verwandt?«
Sirins Miene verdüsterte sich.
»Nein«, sagte er schroff. »Darf ich nun gehen?«
»Du darfst in die Küche zurückkehren«, erwiderte Fidelma ein wenig erheitert. Es stimmte, daß der Verwalter und der Koch aufgrund ihrer Ähnlichkeit Brüder hätten sein können.
Als Sirin fort war, lächelte Fidelma den Fürsten traurig an.
»Heraklit sagt, daß es schwierig ist, gegen Zorn anzukämpfen, denn ein Mensch wird mit seiner ganzen Seele Rache verlangen. Scheinbar ist Brocc nicht der einzige, der hier nach Rache trachtet, Becc.«
Nun herrschte ein unangenehmes Schweigen. Dann sprach Fidelma den Verwalter an, der geduldig neben der Tür gewartet hatte.
»Man sagte mir, daß in jener Nacht der Abt als erster das Fest verließ. Wann genau war das?«
Adag blickte seinen Fürsten fragend an.
Fidelma stieß aufgebracht die Luft aus. »Adag, hör gut zu. Wenn ich dir eine Frage stelle, mußt du, bevor du sie beantwortest, weder um Beccs Erlaubnis ersuchen noch um die eines anderen. Wenn du schon nicht respektierst, daß ich eine Richterin bin, obwohl du das Gesetz befolgen solltest, so respektiere, daß ich die Schwester unseres Königs bin, der in Cashel sitzt. Selbst dein Fürst, Becc, mein Cousin, muß sich mir in dieser Sache unterordnen.«
Becc wirkte verlegen.
»Ich muß mich für meinen Untergebenen entschuldigen, Fidelma. Er hat eine seltsame Vorstellung von Treue«, sagte er und sah Adag voller Zorn an. »Du wirst meiner Cousine Fidelma genauso bereitwillig Rede und Antwort stehen wie mir, Adag. Sonst sehe ich mich nach einem neuen Verwalter um.«
Adag errötete und wirkte nervös.
»Wie war deine Frage?« Seine Stimme klang reumütig.
»Ich fragte, zu welcher Zeit der Abt in jener Nacht die Festung verlassen hat?«
»Kurz nach Mitternacht, glaube ich«, erwiderte er.
»Und war das vor oder nach Ballgel?«
Überrascht starrte er sie an und zögerte, ehe er ihr antwortete.
»Ich glaube, er ging nach ihr.«
»Glaubst du?« Fidelmas Stimme klang sehr bestimmt. »Gibt es jemanden, der das genau weiß?«
Verärgert lief Adag erneut rot an. »Ich war am Tor und verabschiedete mich von Ballgel. Sie ist vor dem Abt fortgegangen. Da bin ich mir sicher.«
»Also bist du der letzte, der sie lebend gesehen hat?« wandte nun Eadulf ein, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
Adag rümpfte verächtlich die Nase. »Ihr Mörder war der letzte, der sie gesehen hat, sächsischer Bruder.«
»Wieviel Zeit verstrich zwischen Ballgels Aufbruch und dem des Abts?« fragte Fidelma. »Ging er kurz darauf oder erst später?«
»Es war etwas später ... Ungefähr eine halbe Stunde oder so.«
»Und die Abtei liegt in der gleichen Richtung wie der Wald, in dem das Mädchen aufgefunden wurde?«
»Am Fuße des Hügels geht es rechts zur Abtei, Ballgel fand man aber in der anderen Richtung. Der Abt hätte sie nicht mehr einholen können.«
Fidelma betrachtete ihn erheitert.
»Warum ist diese zusätzliche Information deiner Meinung nach wohl wichtig?« wollte sie wissen.
Adags Mund wurde vor lauter Verärgerung ganz schmal. »Ich dachte, daß du den Abt beschuldigst .«
»Wenn ich jemanden beschuldige«, warf Fidelma ein, wobei ihre Stimme nach wie vor ganz gelassen klang, »dann sage ich das auch klar und deutlich. Zur Zeit trage ich verschiedene Aussagen zusammen. Ich stelle Fragen und erwarte Antworten, keine Meinungen oder verdrehte Tatsachen. Auch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, der mein fer comtha ist, darf respektvolle Antworten erwarten, denn in seinem Land ist er Anwalt.«
Adag ließ demütig den Kopf hängen. Seine Wangen waren tiefrot. »Ich wollte nur sagen .«
»Ich weiß genau, was du sagen wolltest«, erwiderte Fidelma kurz und knapp. »Gut, kommen wir auf deinen letzten Wortwechsel mit Ballgel zurück .«
Adag schien verwirrt. »Den letzten Wortwechsel?«
»Eure Unterhaltung am Tor, als sie nachts heimging. Ich vermute, daß ihr euch unterhalten habt.«
»Wie ich schon sagte, ich habe sie nur verabschiedet«, meinte Adag rasch. »Dann ging sie los, und das war das letztemal, daß ich sie sah.«
Nachdenklich schwieg Fidelma.
»In jener Nacht war Vollmond. Es war hell. Fürchtete sich Ballgel davor, allein nach Hause zu gehen? Sie wußte doch, daß zuvor zwei Mädchen im Wald ermordet worden waren, oder?«
Adag seufzte und nickte. »Ballgel war ziemlich störrisch und eigenwillig. Nichts schien sie zu beunruhigen. Doch eigentlich ist erst nach ihrem Tod den meisten von uns klargeworden, welche Bedeutung der Vollmond hatte.«
»Bedeutung?« mischte sich Eadulf wieder ein.
»Alle drei Morde geschahen in einer Vollmondnacht.« Der Ton des Verwalters war nun höflicher. »Ich glaube, es war Gabran, der Holzfäller, dem es zuerst auffiel, und er teilte es unserem verstorbenen Brehon Aolü mit ...«
»Das stimmt«, warf Becc ein. »Doch niemand nahm ihn ernst. Erst als Liag, unser Heilkundiger, seine Ansicht teilte, änderte sich das allmählich, und zwar nachdem man auf die zweite Leiche gestoßen war. Li-ag kennt sich mit solchen Dingen aus. Er bringt unseren Kindern dies und das über den Mond und die Sterne bei. Was Adag eben sagte, stimmt. Obwohl Gabran und Liag darauf hingewiesen hatten, daß der Mörder bei Vollmond agierte, wurde es den anderen erst bei Ballgels Tod klar.«