Fidelma dachte eine Weile darüber nach, ehe sie fortfuhr.
»Also ist Ballgel losgegangen, und etwas später machte sich der Abt auf den Weg?«
»Ja, so war es«, sagte Adag. »Dann ging ich ins Bett, denn ich wußte, daß die Gäste meines Fürsten über Nacht bleiben würden.«
»Das genügt mir vorerst, Adag«, stellte Fidelma fest.
Adag blickte zu seinem Herrn, und Becc bedeutete ihm zu gehen.
Fidelma wartete, bis er fort war, dann sagte sie zu Becc: »Wir werden uns morgen mit den Familien der anderen beiden Opfer unterhalten. Doch vielleicht sollten wir mit dem Heilkundigen beginnen. Da er die drei Leichen untersucht hat, könnte ihm einiges aufgefallen sein. Wie war noch sein Name? Liag?«
»Ja, Liag heißt er«, bestätigte ihr Becc. »Ich gebe euch am besten Accobran mit. Er soll euch führen, denn der Wald ist tief und dunkel. Liag wohnt auf einem kleinen Hügel am Fluß, der schwer zu finden ist, und Besucher sieht er nicht gern, besonders Fremde nicht.«
»Wenn er ein Einsiedler ist«, meinte Eadulf, »dann solltest du dich für dein Volk vielleicht nach einem anderen Arzt umsehen. Gibt es in der Abtei einen Kräuterkundigen?«
Becc nickte. »Ja, es gibt einen. Doch Liag gehört zu unserer Gemeinschaft. Er ist kein richtiger Einsiedler. Er hat sogar Schüler.«
»Schüler?« warf Fidelma nachdenklich ein. »Ach ja. Du sagtest, daß er eure Kinder unterrichtet. Lernen sie bei ihm etwas über Pflanzen und Kräuter und ihre Verwendung?«
Becc schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Er lehrt Sternenkunde.«
»Sternenkunde?«
»Die Symbolik von Sonne und Mond, die Götter und Göttinnen, die über sie herrschen, und .« Becc wirkte verlegen. »Ich will damit nicht sagen, daß er etwas lehrt, was im Gegensatz zum neuen Glauben steht. Aber er ist der Hüter des alten Glaubens und der alten Legenden. Und obendrein ist er ein guter Mediziner. Meine Leute vertrauen ihm und seinen Heilmethoden.«
»Es spricht für seine Fähigkeiten, wenn die Kranken und Verletzten auf ihn vertrauen, obwohl er als Eremit lebt und keine Besucher mag«, meinte Eadulf. »Weshalb schwören sie so auf ihn?«
Becc lächelte. »Wegen seiner Heilkünste. Es heißt, daß er von jenen abstammt, die noch über das uralte Wissen verfügten und es lange vor der Einführung des christlichen Glaubens anwandten.«
»Ich bin begierig darauf, ihn kennenzulernen«, versicherte Fidelma dem Fürsten, als sie aufstand. »Und nun .«
»Adag wird euch eure Räume zeigen. Ich glaube, euer Bad wird inzwischen bereitet sein.« Becc hatte ihren Fingerzeig verstanden. »Und hinterher bitte ich euch zu einem kleinen Festmahl zu eurer Begrüßung im Land der Cinel na Äeda.«
Später, als sich Fidelma und Eadulf nach dem erfrischenden Bad und dem Festmahl in der Halle bei Harfenmusik und Dichtung erholt hatten, machten sie sich zum Schlafen fertig. Eadulf lächelte zufrieden. »Becc lebt in einer recht bequemen und angenehmen Burg.«
»Das mag schon sein«, erwiderte Fidelma, doch es war klar, daß sie Eadulfs Zufriedenheit nicht teilte. »Denk daran, warum wir hier sind, Eadulf. An diesem Ort treibt das Böse sein Unwesen. Und dieses Böse bringt bei Vollmond auf grausame Weise junge Mädchen um. Laß dir nicht von den schönen Speisen oder der Gesellschaft und Umgebung deine Sinne benebeln und dir falsche Behaglichkeit vorgaukeln. Das Böse, das in dem dunklen Wald hier lauert, kann wieder zuschlagen . Und vielleicht nicht nur bei Vollmond.«
Kapitel 4
Es war ein heller, frischer Herbstmorgen, kein Nebel trübte die Sicht. Die Umrisse der Hügel und Bäume traten klar und deutlich hervor, braune und rote Töne leuchteten aus den vielen Grünfärbungen. Eadulf hatte gerade gefrühstückt und blickte nun aus dem Fenster. Vor ihm erstreckte sich die Festungsanlage. Sie umfaßte etwa einen Hektar und war von einem dreifachen Wall umgeben. Eadulf versuchte, den Hektar in ein irisches Maß umzurechnen, gab das aber bald auf. Da er unter Bauern aufgewachsen war, schätzte er, daß man mit einem Ochsengespann mehr als zwei Tage benötigen würde, um das gesamte Gelände umzupflügen. Rath Raithlen war im Vergleich zu den anderen Burgen und Wehren, die er gesehen hatte, recht groß. Sogar verglichen mit Schloß Cashel.
Der Festungswall war ganz typisch an den Verlauf des Hügels angepaßt, der achtzig Meter oder höher war und die kleineren Hügel ringsum überragte. Durch die Täler floß eine Reihe von Bächen, einige fast so groß wie jener Fluß, der um den Fuß des Hügels rauschte, auf dem Rath Raithlen lag. Es gab Wälder, so weit das Auge reichte, und hier und da konnte man auf den entfernt liegenden Bergen kleinere Burgen ausmachen. Das Land wirkte reich und fruchtbar. Der Herbst hatte bisher nur die Blätter gefärbt, noch waren die Bäume dicht belaubt.
Innerhalb der Festungsanlage gab es neben dem Sitz des Fürsten und den dazugehörigen Gebäuden mehrere Straßen und Wege mit Werkstätten von Kunsthandwerkern und mit verschiedenen Wohnhäusern. In letzteren lebte wohl das Gefolge des Fürsten. Die Wälle umschlossen ein ganzes Dorf mit mehreren Schmieden, Sattlereien und sogar einer Bierstube. Rath Raithlen war offenbar ein wohlhabender Ort.
»Ich habe gar nicht gewußt, daß die Cinel na Äeda so reich sind«, sagte Eadulf zu Fidelma, als sie vorschlug, in den Hof hinunterzugehen und sich an die Arbeit zu machen.
»Die Chronisten behaupten, dies sei der alte Hauptsitz der Eoghanacht gewesen, ehe unser Vorfahr, König Conall Corc, Cashel entdeckte und dort auf dem Felsen einen neuen Hauptsitz gründete«, erklärte Fidelma. »Wie ich dir schon sagte, mein Cousin Becc ist der Enkel von König Fedelmid, das ist die männliche Form meines Namens.«
»Es ist schon ein beeindruckender Ort«, stimmte ihr Eadulf zu und sah sich im Hof um, ehe sie Beccs Halle betraten. »Ich entdecke hier viele Gedenksteine mit Inschriften - allerdings in Ogham, das ich nicht entziffern kann.«
»Wenn wir Zeit haben, werde ich dir das alte Alphabet beibringen«, meinte Fidelma. »Als ich als Kind hier zu Besuch war, zeigte man mir die Gräber bedeutender Herrscher aus grauer Vorzeit.«
»Mich erstaunt die Anzahl der Schmieden. Ich habe sie von dem Fenster unseres Schlafgemachs aus gese-hen. Nur ein paar davon scheinen wirklich in Betrieb. Wozu benötigt Becc so viele Schmieden?«
»Die Gegend war einst ein Zentrum der Metallverarbeitung. Man findet hier viele kostbare Metalle: Kupfer, Blei und Eisen, sogar Gold und Silber. Der heilige Finnbarr, der in der Abtei geboren wurde, über die wir sprachen, war der Sohn eines Metallhandwerkers.«
»Ich habe dich oft von Magh Meine reden hören, Fidelma, von der Ebene der Mineralien. Ist das hier?«
»Das ist nicht weit weg, Richtung Nordosten. Aber auch hier fördert man verschiedene Erze.« Fidelma verstummte. Accobran, der schöne junge Tanist, trat aus einer Tür und kam auf sie zu. Er begrüßte sie ungezwungen, wirkte zuvorkommender als am gestrigen Abend. Fidelma mißtraute jedoch seinem Charme. Er fragte sie, ob sie zu den Leuten, die zu befragen waren, reiten wollten. Als sie erfuhren, daß die Betreffenden höchstens zwei Meilen weit entfernt wohnten, entschied Fidelma, zu Fuß zu gehen. So hätten sie Gelegenheit, sich die Landschaft anzuschauen und die Stellen genauer zu untersuchen, an denen die drei Mädchen getötet worden waren.
Accobran führte sie durch die Befestigungsanlagen. Schließlich passierten sie das letzte große Holztor und liefen den Hügel hinab. Sie folgten ein Stück einem breiten Weg, bis ihr Begleiter in ein dichtes Waldstück abbog, durch das sich ein schmaler Pfad wand.
»Der alte Liag wohnt mitten in diesem Wald«, teilte ihnen Accobran über die Schulter hinweg mit. Sie konnten nur hintereinanderlaufen, denn Buschwerk überwucherte den Pfad. »Normalerweise trifft man ihn am Ufer des Tuath an.«
»Ein eigenartiger Name für einen Fluß«, meinte Eadulf. Er besserte seine Kenntnisse der Sprache von Eireann bei jeder Gelegenheit auf. »Bedeutet der Name nicht nur Gebiet?«