Der junge Tanist lächelte. »Eine Sippe unseres Volkes südlich von hier wurde von einem Fürsten namens Cüisnigh geführt, sein Herrschaftsgebiet wurde Tuath an Cüisnigh genannt. Irgendwann geriet sein ursprünglicher Name in Vergessenheit. Die Leute be-zeichneten ihn schließlich als >Fluß, der durch das Gebiet der Cüisnigh fließt<, und später blieb nur noch Tuath übrig. So erklärt sich der Name.«
»Wenn dieser Heilkundige so zurückgezogen lebt, wie können wir Kontakt zu ihm aufnehmen, ohne daß er sich bei unserem Auftauchen versteckt?« fragte Fidelma, die ihren eigenen Gedanken nachhing.
Accobran klopfte auf das Horn, das an seinem Gürtel hing. »Ein richtiger Einsiedler ist er nicht, wie gesagt ... Ich werde einfach in mein Jagdhorn stoßen, wenn wir in der Nähe seiner Hütte sind, und dann wird er wissen, daß ihn der Tanist der Cinel na Äeda zu sehen wünscht.«
Der Wald war inzwischen sehr dicht geworden, eine Mischung aus dickstämmigen Eichen, hohen Stechpalmen, Erlen und Eiben. Accobran führte sie geschickt den gewundenen Pfad entlang. Plötzlich hielt er inne, drehte sich um und wies auf eine Stelle, eine Art kleine Lichtung. Fidelmas aufmerksames Auge hatte bereits entdeckt, daß kürzlich jemand hier gewesen sein mußte. Gras und Sträucher waren niedergetreten, Zweige abgebrochen, und das Farnkraut war zerdrückt.
»Dort hat man Ballgels Leiche gefunden.«
Fidelma untersuchte den Ort eingehend. »Hat Ballgel immer diesen Weg nach Hause benutzt?«
Der Tanist zuckte mit der Schulter. »Ich glaube nicht. Ein junges Mädchen wählt normalerweise nicht diesen Waldpfad, wenn sie nachts allein unterwegs ist. Doch es ist eine Abkürzung zur Hütte ihrer Tante, bei der sie wohnte. Sicherer wäre der Hauptweg gewesen, der um den Hügel herum und an der Abtei vorbeiführt. Vielleicht war sie in Eile und hatte sich darum entschieden, die Abkürzung zu riskieren.«
»Zu riskieren?« fragte Eadulf. »Das klingt ja, als hätte sie gewußt, daß hier Gefahren lauern.«
Accobran betrachtete ihn ernst. »Wölfe und andere Tiere, die tagsüber Menschen aus dem Weg gehen, streifen nachts durchs Dickicht und können einen durchaus anfallen, besonders wenn sie spüren, daß man Angst vor ihnen hat. Es gibt hier ein paar wilde Eber, die äußerst aggressiv sind, wenn man sie stört.«
»Meinst du, daß Ballgel ängstlich war?« fragte Eadulf nachdenklich. »Gewiß ist sie hier aufgewachsen, kannte all die Gefahren. Angst hat man immer nur vor dem Unbekannten.«
»Sie war jung, Bruder Eadulf. Ein Mädchen. Welches junge Mädchen hat nachts im Wald keine Angst?«
Fidelma lächelte. »Offensichtlich fürchtete sie sich nicht davor, allein diesen Pfad zu nehmen . « Nachdenklich schwieg sie. »Oder ist sie vielleicht gar nicht allein gewesen? Wurde sie gar dazu gezwungen, hier entlangzugehen?«
Eadulf, der den Boden betrachtet hatte, schüttelte den Kopf. »Kein Hinweis darauf, daß jemand gegen seinen Willen hierhergetrieben wurde. Offenbar waren später mehrere Personen hier, wahrscheinlich um die Leiche zu holen. Wenn man das Opfer auf dem Hauptweg abgefangen hätte, es dort umgebracht oder hierhergeschleppt hätte, um es im Unterholz zu töten, dann würde man sicher Spuren eines Kampfes bemerken. Mir scheint, daß Ballgel freiwillig diesen Pfad genommen hat.«
»Oder sie war schon bewußtlos oder tot«, warf Accobran ein, »dann hätte sie sich nicht mehr wehren können. Möglicherweise hat man sie hergetragen.«
»Das stimmt«, bestätigte ihm Fidelma. »Allerdings hätte man Hinweise darauf finden müssen, zum Beispiel tiefe Fußspuren im Boden, weil jemand eine schwere Last trug. Leider sind inzwischen die meisten Spuren zerstört. Ich neige aber zu der Annahme, daß sie freiwillig hier entlanggegangen ist. Vielleicht hat sie ihren Mörder sogar gekannt.«
Accobran wirkte gleichgültig. »Das ist doch reine Spekulation. Ich glaube nicht, daß sich eine dalaigh in Spekulationen ergehen sollte.«
Fidelma sah ihn ernst an und antwortete: »Eine dalaigh fällt ihr Urteil nicht aufgrund von Spekulationen. Doch ich stelle üblicherweise immer Betrachtungen über mögliche Tathergänge an. Nur so wird sich herauskristallisieren, ob die Beweise zu den bekannten Fakten passen. Gehen wir weiter, denn ich glaube nicht, daß wir hier noch etwas Nützliches finden. Der Mord ist schon zu lange her, und Mensch und Tier haben seitdem das übrige getan. Ich glaube, ich habe die Spuren des Ebers entdeckt, von dem du gesprochen hast.«
Accobran zögerte einen Moment, drehte sich dann aber um und lief wieder voran. Der Pfad führte über den unteren Hang eines Hügels und stieg wieder an. Nach einer Weile wurden Bäume und Unterholz spärlicher, der Weg wurde breiter. Nun gab es sogar ein paar grasbewachsene Lichtungen, auf die die Sonne schien. Accobran deutete nach vorn.
»Der Fluß ist nicht mehr weit, und der kleine Berg zu unserer Rechten wird der >Hügel des heiligen Baumes< genannt. Dort wohnt Liag.«
Eine kleine Erhebung lag im Schatten des größeren Hügels vor ihnen.
»So kündige uns besser an«, schlug Fidelma vor.
Accobran löste sein Jagdhorn vom Gürtel, befeuchtete die Lippen, hielt einen Moment inne und stieß dann dreimal kurz hinein.
»Wenn Liag in der Nähe ist, wird er wissen, daß ihn jemand sprechen will«, sagte er und ging weiter den Hügel hinauf. Jetzt konnten sie das Rauschen des Flusses in seinem Steinbett hören. Der Wald wurde immer lichter, und man sah links den nicht allzu breiten Fluß.
»Das ist der Tuath. Er fließt, wie gesagt, um den Hügel herum, auf dem Rath Raithlen liegt, und dann weiter nach Süden«, erklärte Accobran.
Sie gelangten an den Fuß der kleinen Erhebung und bemerkten eine Holzhütte unter dichten, schutzbietenden Bäumen.
»Gebt euch zu erkennen!«
Sie erschraken. Fidelma blickte in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war, doch in dem dunklen Schatten der Bäume nahm sie nichts wahr.
»Fremde, gebt euch zu erkennen!«
Es war die Stimme eines Mannes, kräftig und laut, die gewohnt war, Befehle zu erteilen.
Accobran sah zu Fidelma, ehe er antwortete. »Liag, ich bin’s, Accobran, der Tanist. Ich habe ein paar Freunde mitgebracht, die sich mit dir unterhalten wollen.«
»Deine Freunde, nicht meine. Wer sind sie und was wollen sie?«
»Ich bin Schwester Fidelma«, rief Fidelma. »Und Bruder Eadulf begleitet mich.«
»In meinem Refugium brauche ich keine Mönche und Nonnen.« Die Stimme klang immer noch abweisend.
»Wir sind nicht als Geistliche hier. Ich bin eine dalaigh und vertrete hier die oberste Gerichtsbarkeit.«
Der Unsichtbare schwieg und schien über diese Mitteilung nachzudenken. Dann löste sich ein Schatten aus den Bäumen. Ein älterer Mann in einem safrangelben Wollgewand trat hervor. Er trug eine silberne Halskette, hatte langes schlohweißes Haar, das von einem Haarreif aus grünen und gelben Perlen zurückgehalten wurde. An einem Lederriemen über der Schulter hing ein Sack, in dem Eadulf den traditionellen lés oder Medizinbeutel erkannte. In der rechten Hand hielt er etwas, das wie eine Peitsche aussah.
»Tritt vor, dalaigh. Ich will diejenige sehen, die als Anwältin hier ist und nicht als Nonne.«
Fidelma bewegte sich ein wenig den Pfad hinauf und gab den anderen ein Zeichen, an Ort und Stelle zu warten. Das Gesicht des Mannes war tief zerfurcht, und seine Augen leuchteten wie zwei kalte blaue Steine. Mißtrauisch betrachtete er Fidelma.
»Für eine Vertreterin des Gesetzes bist du ziemlich jung«, sagte er schließlich.
»Und für den einzigen vertrauenswürdigen Mediziner in dieser Gegend wirkst du recht alt«, erwiderte Fidelma feierlich.
Der alte Mann zeigte auf den Gegenstand in seiner Hand. »Erkennst du das hier?«