Sie nickte rasch. »Die echlais ist ein Zeichen deines Amtes, sie zeigt, daß du ein gesetzlich anerkannter Arzt bist.«
»So ist es. Ich besitze die ganze Autorität meines Berufes. Ich bin nicht nur ein Kräuterdoktor.«
»Das habe ich auch nicht gedacht.« Sie fuhr mit der Hand zu ihrem marsupium, dem Beutel am Gürtel, und holte den Amtsstab aus Eberesche heraus, den ihr Bruder ihr mitgegeben hatte. »Und erkennst du das hier?«
Die Augen des Alten wurden größer. »Der Amtsstab der Eoghanacht, der Könige von Cashel, der Herrscher von Munster, der Nachfahren von Eber Fionn, dem Sohn Golamhs, dem Krieger aus Spanien, der die Kinder der Gael hierherbrachte. Ich erkenne das Hirschemblem.«
Fidelma ließ den Stab wieder in ihrem marsupium verschwinden. »Ich bin, wie ich schon sagte, eine dalaigh und Schwester von Colgü, dem König von Cashel.«
Der alte Einsiedler schwieg einen Augenblick.
»Warum bist du zu mir gekommen?« fragte er endlich.
»Mein Gefährte und ich sind damit beauftragt, die Morde an den drei Mädchen zu untersuchen.«
Der Alte blieb immer noch mißtrauisch.
»Wer hat euch beauftragt?«
»Mein Bruder Colgü, König von Cashel, auf Bitten von Becc, Herrscher der Cinel na Äeda.«
Der alte Mann verzog das Gesicht. »Ein Name der Eoghanacht reicht aus, um deine Befugnis zu untermauern, Fidelma von Cashel. So seid willkommen und nehmt Platz. Ich kann euch miodh cuill anbieten, einen selbstgemachten Haselstrauchmet.«
Fidelma setzte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baumes und gab den anderen zu verstehen, es ihr nachzutun.
Der Einsiedler legte seinen Beutel ab und lief rasch zu einer Quelle, die zwischen ein paar Steinen hervorsprudelte. Er griff nach einem Lederriemen im Wasser, an dessen Ende sich ein Krug befand, holte eine Keramikschale aus seinem Beutel und füllte sie mit dem gekühlten Met.
»Ich fürchte, daß ihr euch das wenige teilen müßt«, sagte er, und das klang nicht entschuldigend. »Ich erwarte keinen Besuch, ich ermuntere auch niemanden dazu.«
»Wir werden dich auch gar nicht lange aufhalten«, versicherte ihm Fidelma, nahm die Schale entgegen und trank höflich daraus. Dann reichte sie sie weiter. Das Getränk war zu stark für sie, und selbst Eadulf holte nach dem ersten Schluck Luft. Er hustete und gab die Schale rasch Accobran, der wohl eher daran gewöhnt war.
»Ich habe erfahren, daß du die Leichen untersucht hast. Deiner Meinung nach sind also alle drei Mädchen ermordet worden.«
»Ich nehme meinen Auftrag immer ernst, Fidelma von Cashel«, erklärte ihr der Alte und setzte sich ihr gegenüber.
»Das ist mir klar.«
»Ich kenne das Gesetz von Dian Cecht, also versuche nicht, meine Fähigkeiten in Frage zu stellen.«
»Gibt es einen Grund, warum ich das tun sollte?« gab ihm Fidelma in so scharfem Ton zurück, daß der Alte einen Moment erschrocken wirkte.
»Nein«, rechtfertigte er sich.
»Dann ist es gut. Denn ich habe keinen Anlaß, die medizinischen Gesetze von Dian Cecht genauer zu betrachten. Ich will nicht deine Untersuchungsergebnisse anfechten, sondern Fakten sammeln.«
Der Alte hatte sich wieder gefaßt und gab ihr zu verstehen, daß sie fortfahren könne.
»Du hast also alle drei Leichen untersucht«, wiederholte sie.
»Das stimmt.«
»Und ich weiß, daß du zunächst die Leute von der ursprünglichen Annahme abgebracht hast, das erste Mädchen sei von einem wilden Tier angefallen worden. Sag mir, warum?«
Liag äußerte sich mit Bedacht. »Ich begriff, wieso man auf eine solche Idee kommen konnte. Das erste der Opfer ... Beccnat, so hieß das Mädchen ... war gräßlich verstümmelt worden. Unter dem getrockneten Blut konnte man kaum etwas erkennen. Außerdem war der Körper bereits ins Verwesungsstadium übergegangen, denn er muß zwei oder drei Tage im Wald gelegen haben. Erst als man die Leiche für die Totenfeier wusch, fiel mir auf, daß das Fleisch zwar schlimm zugerichtet war, die Wunden aber nicht von Zähnen, sondern von der gezackten Schneide eines Messers stammten.«
»Und in den anderen beiden Fällen war es ebenso?« »Ja.«
»Sag mir«, Fidelma zögerte etwas, denn sie wollte die Frage vorsichtig formulieren. »Fehlte an den Leichen etwas?«
Liag war ganz erstaunt. »Ob etwas fehlte?«
»Waren die Leichen, abgesehen von den Verstümmelungen, noch vollständig?«
»Körperteile fehlten nicht«, erklärte Liag, als er be-griff, worauf sie hinauswollte. »Du brauchst hier nicht nach dem Vollzug irgendeines alten Rituals zu suchen, Fidelma von Cashel. Die drei Mädchen wurden von einem Verrückten heimtückisch gemeuchelt.«
Fidelma blickte schnell auf. »Von einem Verrückten? Weißt du, was du da sagst?«
»Wer sonst außer einer kranken Seele könnte diesen Taten begangen haben?«
»Dann meinst du also, daß ein Geistesgestörter immer bei Vollmond mordet?«
»Meiner Meinung nach ist das eine erwiesene Tatsache. Bedenke die Tatzeit des vorletzten Mordes zum Beispiel. Er fand genau zum Mond des Dachses statt.«
»Mond des Dachses? Was ist das?« fragte Eadulf dazwischen.
Liag drehte sich mit abschätzigem Blick zu ihm um, er hatte Eadulfs Akzent gehört.
»Ein Sachse? Du bist in eigenartiger Begleitung unterwegs, Schwester von König Colgü von Cashel«, sagte er zu Fidelma. Ehe sie etwas erwidern konnte, erläuterte er Eadulf: »Der Vollmond im Oktober wird Mond des Dachses genannt, mein sächsischer Freund. Er ist so hell, sagten unsere Vorfahren, daß die Dachse im Mondlicht Gras für ihren Bau trocknen. Die Zeit des Oktobermondes ist heilig, und das Licht des Dachsmondes fällt wohlwollend auf jene, die seine Kraft anerkennen . So etwa dachten unsere Vorfahren.«
Eadulf erschauerte leicht. Schon in seiner Jugend war er zum Christentum übergetreten, er konnte sich aber immer noch an die abergläubischen Vorstellungen seiner heidnischen Ahnen erinnern.
Der alte Liag belächelte Eadulf zufrieden. »Die Menschen meinten damals, daß die Mondgöttin, deren Name nicht ausgesprochen werden darf, die Erde zur Zeit des Dachsmondes reinigt, insbesondere wenn man ihr einen Dachs opferte und sein Fleisch verzehrte.«
»Ich habe gehört, du unterrichtest Sternenkunde«, warf Fidelma ein. »Dann kennst du also alle Legenden, die sich um den Vollmond ranken?«
Liag wirkte gleichgültig. »Jene Legenden bilden die Wurzeln unserer Kultur, gehören zu unserem Geburtsrecht. Wir sollten alle Geschichten kennen, die uns von unzähligen Generationen unserer Vorfahren überliefert wurden. Mir ist es zugefallen, diese Geschichten an die jungen Stammesangehörigen der Ci-nel na Äeda weiterzugeben. Nicht wahr, Accobran?«
Der Tanist errötete. »Du bist ein guter Lehrer, Li-ag. Du hast ein so umfassendes Wissen wie kein anderer. Aber einen Dachs zu opfern . Davon habe ich noch nichts gehört. Sicher ist das Fleisch des Dachses von Fionn mac Cumhail sehr geschätzt worden, nicht wahr? In den alten Erzählungen wird berichtet, daß einer von Fionns Kriegern, Moling der Schnelle, ihm ein Stück Dachsfleisch bringen sollte.«
Liag unterbrach ihn nicht.
»Ich habe auch gehört, daß der heilige Mo Laisse von der Insel Oaks im Land Ui Neill eine Kappe aus Dachsfell trug, die nun als Reliquie auf der Insel aufbewahrt wird«, fügte Fidelma leise hinzu.
Liag lachte zynisch auf. »Ich verstehe nicht, warum die Anhänger des christlichen Glaubens behaupten, sie würden keine Gegenstände mehr anbeten, und es dennoch tun. Die Verehrung des Kreuzes, heiliger Gegenstände und Ikonen . Wo ist da der Unterschied zur Verehrung anderer Dinge?«
Niemand erwiderte etwas.
Fidelma wartete eine Weile und fragte dann Liag: »Als du die Leichen angeschaut hast, ist dir, abgesehen von den Messerstichen, noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen, etwas, das dich zu Vermutungen über die Identität des Täters gebracht haben könnte?«