Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich habe dir alles erzählt.«
»Accobran hat uns gezeigt, wo Ballgel gefunden wurde. Wo hat man die anderen Leichen entdeckt?«
»Beccnats Leiche lag an einem Ort, den man Steinkreis der Wildschweine nennt.« Er deutete auf die hohen, bewachsenen Hänge hinter ihnen. »Über der Abtei. Escrach lag fast an der gleichen Stelle.« Auf einmal erhob sich der Alte. »Wenn das dann alles war .«
Fidelma stand ganz erstaunt auf, mit einem so raschen Ende des Gesprächs hatten sie und ihre Begleiter nicht gerechnet.
»Vielleicht werde ich noch einmal mit dir reden müssen«, rief sie ihm hinterher, als er sich plötzlich auf den Weg gemacht hatte.
Liag drehte sich um, er wirkte mürrisch. »Du hast mich schon einmal gefunden, Schwester des Königs. Zweifellos wird dir das wieder gelingen. Doch deine Fragen hätten dir auch andere beantworten können. Aber es geht mich nichts an, womit du deine Zeit verschwendest. Ich nutze die meine sinnvoller. Solltest du mich also wieder aufsuchen, dann nur mit präzisen Überlegungen, ansonsten werde ich dich nicht empfangen und meine kostbare Zeit vergeuden.«
Mit diesen Worten verschwand der Alte. Fidelma sah ihm erstaunt hinterher.
»Ein Mann ohne Manieren«, murmelte Eadulf mürrisch.
Accobran verzog das Gesicht. »Ich habe euch gewarnt, daß sich Liag der Gesellschaft anderer entzieht. Für ihn gelten die Regeln des normalen Umgangs nicht.«
»Du hast uns gewarnt«, bestätigte ihm Fidelma. »Allerdings hat er in einem recht: Meine Fragen hätten wirklich auch andere beantworten können. Doch mir lag daran, das alles aus Liags Mund zu erfahren. Eadulf kennt meine Methoden. Es ist immer besser, den einzelnen Zeugen selbst anzuhören, als sich aufs Hörensagen zu verlassen.«
Eadulf blickte sie überrascht an. »Und hast du etwas Neues herausgefunden?«
Fidelma lächelte ruhig. »Aber ja, ja wirklich. Vielleicht könnte uns Accobran nun zum Vater des ersten Opfers bringen, zu Lesren, dem Gerber.«
Accobran schaute daraufhin noch verblüffter drein als Eadulf, zuckte aber nur mit den Schultern. »Lesren wohnt ganz in der Nähe. Flußaufwärts an dem Hügel, auf dem Rath Raithlen liegt.«
Und schon machte er sich auf den Weg. Fidelma beugte sich zu Eadulf hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Präge dir diese Stelle gut ein. Vielleicht müssen wir noch einmal allein hierherkommen.«
Wieder folgten sie einem schmalen und beschwerlichen Pfad, er lief so dicht wie möglich am Fluß entlang. Bäume und Büsche wuchsen bis ans Ufer hinunter, das abbröckelte und nicht ohne Gefahr zu begehen war. Sie gingen im Gänsemarsch.
»Der Hügel, auf dem man Escrach und Beccnat fand«, fragte Fidelma auf einmal, »wie hieß er doch gleich?«
»Die Gegend dort nennt man das Eberdickicht. So heißt auch der Hügel.«
Fidelma fiel ein, daß Becc den Namen erwähnt hatte.
»Der Mörder scheint diesen Ort zu bevorzugen«, murmelte sie vor sich hin.
Eadulf, der hinter Fidelma ging, wandte ein: »Ist denn das von Bedeutung? Schließlich handelt es sich offenbar um einen Verrückten, der wahllos tötet.«
»Möglicherweise hast du recht. Doch vielleicht ist die Wahl des Tatorts gar nicht so willkürlich.«
Eadulf wollte noch eine Frage stellen, da drehte sie sich um. Ihr Gesicht war ausdruckslos; den Wink verstand er zur Genüge. Sie wollte im Augenblick nicht weiter darauf eingehen.
Als das Ufer flacher wurde und auf einen kiesartigen Strand sanft abfiel, mündete der Pfad plötzlich in einen breiteren Weg. Der Lärm von Kindern übertönte selbst das Rauschen des Flusses. Fidelma hatte sie schon gehört, noch ehe sie zu sehen waren. Zwei Jungen staksten im flachen Wasser herum und suchten etwas.
»Jungen von hier, sie fischen«, erklärte Accobran kurz und wollte weitergehen.
»Die fischen nicht«, wurde er von Fidelma berichtigt. Sie trat dichter ans Wasser. »Na, findet ihr was, Jungs?« rief sie.
Sie drehten sich um. Zwei elf- oder zwölfjährige Jungen mit zerzausten Haaren. Einer hielt eine Schüssel in der Hand und zuckte mit den Schultern, wobei er auf deren Inhalt deutete.
»Überhaupt nicht, Schwester. Aber Sioda behauptet, er hätte hier neulich einen echten Goldklumpen gefunden.«
»Oh. Wer ist Sioda?«
»Ein Freund von uns. Deshalb sind wir hier. Die genaue Stelle wollte er uns nicht verraten. Bisher haben wir nichts weiter entdeckt, nur Schlamm und Steine.«
»Na dann noch viel Glück, Jungs.«
Fidelma kehrte wieder zu Eadulf und Accobran auf den Weg zurück.
»Was machen die denn da?«
»Wir nennen das Erzwaschen«, erklärte ihm Fidelma. »Manchmal sind Metalle im Flußbett - zum Beispiel Gold. Man holt mit einer Schüssel Sand, Kies oder Schlamm vom Grund des Flusses herauf, wie die Jungen es tun, und spült alles durch in der Hoffnung, ein wenig Gold zu finden.«
Accobran lachte laut auf, es klang irgendwie verbittert. »Vor ungefähr hundert Jahren, zu Zeiten des heiligen Finnbarr, hat man hier Gold entdeckt. Bis die Jungen dort was auswaschen, müssen sie wohl bis zum Jüngsten Tag warten.«
»Meinst du also, es stimmt nicht, daß dieser Sioda hier Gold gefunden hat?« fragte Fidelma interessiert.
»Das wird wohl eher sulfar iarainn gewesen sein.«
Eadulf runzelte die Stirn, denn obwohl er das Wort »Eisen« erkannte, verstand er die genaue Bedeutung dieses irischen Begriffs nicht.
»Pyrit«, erklärte Fidelma. »Katzengold, denn es sieht wie Gold aus, ist aber keins.« Sie wandte sich wieder an Accobran. »Kennst du dich mit diesen Dingen aus?«
Der junge Tanist zuckte die Schultern. »In dieser Gegend wurde einst Bergbau betrieben; die Cinel na Äeda sind dadurch reich und mächtig geworden. Die Gold- und Silbervorkommen sind inzwischen erschöpft, es gibt nur noch Kupfer und nördlich von hier etwas Blei.«
Er führte sie weiter den Weg voran. Der Wald wirkte nun nicht mehr so bedrückend, ab und zu war auf gerodeten Flächen Mais und Weizen angebaut.
»Jetzt sind wir bald an Lesrens Hütte«, rief Accobran.
Eadulf stieg ein eigenartiger Geruch in die Nase, vielleicht nach verdorbenem Essen. Prüfend sog er ihn noch einmal ein, bis ihm klar wurde, worum es sich handelte. Sie passierten eine Baumreihe, die ein großes
Stück gerodetes Land einfaßte, das sich am Fluß entlang erstreckte. Auf ihm stand eine große Blockhütte, aus deren Schornstein Rauch aufstieg. In ihrer Nähe waren mehrere kleinere Schuppen, neben denen sich Holzrahmen mit aufgespannten Tierhäuten reihten. Über zwei großen Feuern hingen schwere Eisenkessel, deren blubbernder und dampfender Inhalt von einem Jungen umgerührt wurde. Daher kam also der beißende Gestank. Eadulf bemerkte einen Mann mit einer dicken Stange, der eine Haut in den Kessel fallen ließ. Hier mußte es sich eindeutig um die Gerberei handeln.
Vor einem der großen Holzrahmen stand ein dünner, zäh wirkender Mann mit einer Lederschürze und tastete prüfend die straffe Tierhaut ab.
»Lesren!« rief Accobran.
Der Mann blickte sich um. Er hatte kleine, flinke, dunkle Augen, die Fidelma an einen Baummarder erinnerten. Mißtrauisch und ängstlich. Ehe er sich dem jungen Tanist zuwandte, musterte er Eadulf und Fidelma.
»Was willst du von mir, Accobran«, fuhr er ihn barsch an. »Habe ich nicht genug zu tun?«
Eadulf und Fidelma wechselten einen Blick. Sehr entgegenkommend war der Gerber ja nicht gerade. Bisher schien ihnen niemand von den Cinel na Äeda freundlich zu begegnen.
»Ich habe einen Richter mitgebracht, der ein paar Auskünfte von dir braucht, Lesren.«
Die dunklen Augen des Gerbers schwenkten zu Eadulf. »Richter? Dieser Mann ist ein Fremder.«
»Hast du etwas gegen Fremde, Lesren?« fragte ihn Fidelma streng.
»Nein, Frau, solange sie sich nicht in meine Angelegenheiten einmischen.«