»Du bist recht dickköpfig, Lesren«, mischte sich jetzt Accobran ein. »Gabran war überhaupt nicht in der Nähe, als deine Tochter starb. Ganz gleich, was du Gabrans Vater anzulasten suchst, die Zeugen sagen etwas anderes aus. Und mal abgesehen von deiner Meinung, du kannst Escrachs und Ballgels Tod Ga-bran nicht auch noch in die Schuhe schieben. Warum sollte er sie umgebracht haben?«
»Um das zu erreichen, was ihm offensichtlich bei dir gelungen ist ... Dich von seiner Spur abzubringen. Es aussehen zu lassen, als würde ein Verrückter hier sein Unwesen treiben. Daran glaube ich nicht. Und ich werde es bei jeder Gelegenheit wiederholen. Ga-bran hat meine Tochter getötet.«
»Aber warum? Aus welchem Grund sollte er das getan haben? Sie wollten heiraten.« Fidelmas Stimme war ruhig, doch ihre Fragen trafen mit ihrer Logik genau ins Schwarze.
Lesren starrte sie an.
»Warum?« wiederholte er langsam, als sei ihm diese Überlegung neu.
Fidelma blieb hartnäckig. »Er wollte Beccnat heiraten. Trotz deiner Einwände, wie man mir erzählt hat. Weshalb sollte er sie umbringen?«
Lesren zögerte kurz, er schien seine Gedanken zu ordnen.
»Weil«, sagte er leise, »weil sie mir einige Tage vor ihrem gewaltsamen Ende gesagt hat, sie wolle mich und ihre Mutter nicht weiter beunruhigen und würde Gabran nicht heiraten. Sie fühlte sich von ihm nur benutzt, und er sei nicht der passende Ehemann für sie. Dann ging sie fort und kehrte nie mehr zurück. Sie wollte Gabran mitteilen, daß ihre Beziehung beendet sei. Darum hat er sie ermordet.«
Kapitel 5
Inzwischen hatte sich eine Frau neben Lesren gestellt. In ihrer Jugend mußte sie recht hübsch gewesen sein. Obwohl ihr schwarzes Haar graue Strähnen zeigte, trugen ihre hellen Augen, ihre makellose Haut und ihre ganze Erscheinung keine Spuren des Alters. Sie wirkte bedrückt. Lesren machte keine Anstalten, sie vorzustellen, Fidelma ahnte jedoch, wer sie war.
»Bist du Beccnats Mutter?«
»Ich bin Bebhail, Schwester.«
Lesren drehte sich grinsend zu seiner Frau um. »Das ist die Schwester des Königs, Weib. Eine Richterin, sie will was über Beccnats Tod herausfinden.«
Seine Frau blinzelte leicht und senkte den Kopf. Fidelma spürte, daß sie sich wegen des ungehobelten Benehmens ihres Mannes schämte.
»Du hast gehört, was dein Mann gesagt hat. Danach hatte Beccnat ihre Meinung geändert und wollte Ga-bran nicht mehr heiraten. Ein paar Nächte vor ihrem Tod ging sie fort, um es ihm mitzuteilen. Warst du dabei, als sie das sagte?«
Die Frau blickte ihren Mann nervös an und nickte dann rasch. Auf einmal traten ihr Tränen in die Augen. Es war offensichtlich, daß sie ganz verzweifelt war.
»Das Mädchen hat also euch beiden von ihrer Absicht erzählt und ist dann auf und davon?«
»Es ist so, wie mein Mann sagte. Ich kann dem nichts hinzufügen.« Bebhail eilte rasch in die Hütte zurück und schloß die Tür hinter sich.
Lesren lächelte düster.
»Bist du nun zufrieden, dalaigh?« fuhr er sie heftig an.
Fidelma blickte mit starrer Miene zu ihm hin. »Ganz im Gegenteil. Du vergißt da eines. Ob es sich deine Tochter anders überlegt hat oder nicht, ob Ga-bran ein Motiv hatte oder nicht, Accobran hat bestätigt, daß Gabran in der Mordnacht mehr als zwölf Meilen entfernt war. Doch mach dir keine Gedanken darum, ich werde alles noch einmal überprüfen.«
»Tu das, dalaigh. Ich erwarte Gerechtigkeit.«
»Keine Sorge. Die wirst du bald erfahren. Ich komme wieder.«
Als sie außer Hörweite waren, sagte Eadulf leise: »Er hat gelogen, was seine Tochter angeht. Da bin ich mir sicher. Seine Frau hatte ganz offensichtlich Angst davor, in seinem Beisein etwas auszuplaudern.«
»Es herrschte eine gewisse Spannung bei dem Ehepaar«, stimmte ihm Fidelma zu. Neugierig blickte sie Accobran an. »Haßt er Gabran und dessen Familie wirklich derart? Worum ging es bei dem Bußgeld, das Aolü dem Vater des Jungen auferlegte?«
»Seit Jahren herrscht Feindseligkeit zwischen Les-ren und Goll«, antwortete der Tanist. »Meiner Meinung nach genügt das nicht, um jemanden umzubringen. Vorwürfe wegen Diebstahls sind eine Sache, aber Mord, dreifacher Mord - das ist etwas anderes.«
»Worum ging es bei diesen Vorwürfen? Vermutlich wurde deshalb das Bußgeld erhoben?«
»Darüber weiß ich nur wenig. Ein paar Geschichten waren im Umlauf. Wenn du die Wahrheit wissen willst, mußt du dich an Becc wenden, er hat sich seinerzeit in dem Fall mit Brehon Aolü beraten.«
Fidelma schwieg nachdenklich. Dann sagte sie: »Ich denke, wir sollten jetzt mit Gabran und seinem Vater sprechen.«
Accobran blickte zum Himmel auf. »Es ist schon Mittag vorüber, Schwester. Ich würde empfehlen, zum Essen zur Festung zurückzukehren. Wenn ich mich nicht irre, wolltet ihr auch Seachlann aufsuchen, Escrachs Vater, und dann noch zur Abtei weiter. Becc teilte mir mit, daß ihr die Fremden dort sprechen wollt. Goll und Gabran arbeiten im Wald auf der anderen Seite des Flusses. Ich bezweifle, daß wir vor Einbruch der Nacht dahin gelangen, wenn wir nach eurem Plan vorgehen.«
Fidelma nahm das gelassen auf. »Eile mit Weile. Wenn wir Gabran und Goll heute nicht treffen, dann eben morgen. Doch da erinnerst du mich an etwas -was ist mit Escrach? Stimmt es, daß Gabran mit ihr zusammen war?«
»Escrach war attraktiv. Die Cinel na Äeda stehen in dem Ruf, schöne Frauen zu haben. Und Gabran war ein gesunder Bursche. Das ist in dieser Gemeinschaft nichts Ungewöhnliches. Hier heiratet man früh und bekommt Kinder, noch ehe die Jugend vorbei ist.«
»Und doch bist du unverheiratet, Tanist der Cinel na Äeda«, stellte Fidelma fest.
Wieder einmal glitt das entwaffnende Lächeln über sein Gesicht. »Nun, ich habe viele Jahre damit zugebracht, den Kriegsgöttern zu folgen. Ein Krieger sollte sich keine Frau nehmen, denn oft bleibt sie als Witwe zurück. Ich bin erst vor kurzem seßhaft geworden, um die Pflichten zu erlernen, die mir mein Cousin und unser derbfhine auferlegt haben.« Auf einmal wirkte Accobran nachdenklich. »Gehst du davon aus, daß bis zum nächsten Vollmond nichts Ernstes passieren wird?«
Fidelma betrachtete ihn abwägend. »Du vermutest also, daß es einen weiteren Mord geben wird?«
»Was dreimal geschah, kann gewiß noch ein viertes Mal geschehen.«
»Also bist du auch Liags Ansicht, daß hier ein Verrückter am Werk ist und der Vollmond den Mörder zu seinen Taten verleitet?«
Accobran lächelte zynisch. »Das ist zumindest einleuchtender als die Geschichte, die Lesren uns glauben machen will. Ehrlich gesagt, ich kann Gabran nicht besonders leiden. Er ist manchmal ziemlich arrogant. Und doch glaube ich, daß der alte Liag recht hat. Was sollte es sonst für eine Erklärung geben?«
»Wir müssen in Erfahrung bringen, warum Brocc die Fremden beschuldigt, und wir müssen die Fremden aufsuchen, damit sie die Vorwürfe entkräften können«, unterstrich Eadulf. »Vor voreiligen Schlüssen sollten wir uns hüten.«
Er spürte, daß Fidelma ihn ansah, und errötete ein wenig, denn er wußte, daß er sich genau jener Worte bediente, mit denen sie ihn oft gerügt hatte.
»Das ist wohl wahr«, stimmte der junge Tanist zu. »Und je früher wir uns in der Festung stärken, desto eher können wir mit den Untersuchungen fortfahren.«
Sogleich führte er sie auf einem steilen Pfad den Hügel hinauf zu den hochaufragenden Umfriedungen von Rath Raithlen.
Das Mittagsmahl nahmen sie zusammen mit Becc ein. Der Fürst lächelte bitter, als man auf Lesren und Goll zu sprechen kam.
»Vielleicht hätte ich euch wegen der beiden vorwarnen sollen.«