»Dieser Kerl ist nicht nur ein Dummkopf, er ist auch bösartig«, erwiderte Becc. »Ich weiß wirklich nicht, warum sich seine Frau all das gefallen läßt, was er ihr antut. Lesren kann Gabran doch nicht des Mordes beschuldigen, nachdem Accobran gegenteilige Beweise geliefert hat. Und da sind außerdem die anderen Morde. Brocc hat bisher alle, nur Lesren nicht, davon überzeugt, daß die Fremden in der Abtei dafür verantwortlich sind.«
Fidelma holte tief Luft. »Hier gehen so viel Angst und Mißtrauen um, Becc. Es ist, als blicke man in einen undurchdringlichen Nebel voller taumelnder dunkler Schatten. Doch der Tag ist noch lang - wir können eine Reihe anderer Leute aufsuchen. Eadulf ist inzwischen auch mit dem Essen fertig. So laßt uns aufbrechen.«
Eadulf schlang eilig den letzten Bissen hinunter und sprang auf. Er bemerkte nicht, daß Fidelma ihn anlächelte.
»Das ist Seachlanns Mühle.«
Fidelma und Eadulf waren mit dem jungen Tanist ein zweites Mal einen schmalen Pfad entlanggegangen, der sie zum Ufer führte. Die Stelle ähnelte der Lichtung, auf der sich Lesrens Hütte befand, nur standen hier weniger Bäume. Eine im Grundriß runde Wassermühle mit einem riesigen Wasserrad wurde von der Kraft des Flusses in Gang gehalten. Unweit der Mühle entdeckten sie neben dem dahinschnellenden Wasser einen Mann an einem kleinen Feuer. Er war in mittlerem Alter, stämmig und muskulös und wirkte mit dem zerzausten Bart und den wilden Haaren ziemlich ungepflegt. Er hielt einen Korb über die Flammen und drehte und wendete dessen Inhalt.
Fidelma bemerkte, daß Eadulf fragend die Stirn runzelte, und kam ihm zu Hilfe.
»Der Mann trocknet die graddan, die Körner, in einem criather, das ist der Korb, den er über das Feuer hält«, erklärte sie ihm. »Das trockene Korn bringt er dann zur Mühle. Behandelt man in deinem Land das Getreide ähnlich?«
»Nicht so, wie ihr es macht. Auf diese Weise kann man doch nur geringe Mengen trocknen, nicht wahr?«
»Oh, es gibt auch riesige Öfen, sogenannte Darren, wo viel Getreide getrocknet werden kann. Diese Methode hier ist nur bei kleinen Mengen angebracht.«
»Und warum fängt der Korb kein Feuer?« fragte Eadulf.
»Nun, der Boden ist aus Knochen gemacht, aus den Knochen eines Wals. Die können zwar ansengen, aber nicht brennen.«
Der Mann am Feuer hatte sie gehört, stellte den Korb beiseite und erhob sich langsam. Sein Blick war finster und unfreundlich.
Accobran drehte sich zu Fidelma um und sagte leise: »Das ist Brocc, der Bruder des Müllers, unser Unruhestifter.«
»Was willst du hier, Accobran?« erscholl Broccs rauhe Stimme, ehe sie sich ihm auf fünf bis sechs Meter genähert hatten. Er humpelte auf sie zu. Fidelma erinnerte sich, daß ihn Beccs Pfeil am Oberschenkel verwundet hatte. »Du hast keinen Grund, mich mit deiner Gegenwart zu belästigen, es sei denn, du möchtest mich wieder gefangennehmen.«
Unberührt von dem schroffen Auftreten des Mannes, lächelte der Tanist.
»Ich werde dich nicht belästigen, Brocc. Es sei denn, du machst wieder Ärger. Wir wollen deinen Bruder sprechen, den Müller Seachlann.«
Inzwischen war ein anderer Mann aus der Mühle getreten. Unter seiner Müllerschürze verbarg sich eine leicht rundliche Figur. Er war offensichtlich älter als Brocc und nicht so kräftig wie dieser.
»Was wünscht ihr von mir?« rief er laut von der Tür her und nahm Fidelma und Eadulf scharf ins Visier. »Geistlicher Besuch ist das letzte, was ich brauche, wo die Mörder meiner Tochter im Kloster Unterschlupf fanden.«
Accobran nannte Fidelmas und Eadulfs Namen und Herkunft. Brocc erwiderte darauf sarkastisch: »Also du bist die dalaigh, die unser Fürst aus Cashel geholt hat? Eine Ordensschwester! Dann steht das Kloster wohl unter deinem Schutz?«
Fidelma fuhr ihn scharf an. »Ich bin eine dalaigh, und ich werde Recht und Gesetz hochhalten, ganz gleich, wer es verletzt hat. Wenn dir das nicht genügt, Brocc, so sollte dir wenigstens bewußt sein, daß ich König Colgüs Schwester bin. Ich möchte dich auch darauf hinweisen, daß man künftig von dir ein friedfertiges Verhalten erwartet.«
Brocc öffnete schon den Mund, als wollte er etwas darauf erwidern, doch dann sah er ihre eiskalten Augen, zuckte mit den Schultern und schwieg.
»Was willst du von uns, Lady?« fragte der Müller ein wenig entgegenkommender.
»Ich möchte mehr über deine Tochter erfahren, Seachlann, und über die Umstände ihres Todes. Ich suche ihren Mörder.«
Der Müller winkte sie in die Mühle. »Drinnen können wir es uns bequemer machen.« Er schaute zu seinem Bruder hinüber. »Das Korn muß noch weiter getrocknet werden«, sagte er streng.
Zögernd humpelte Brocc zum Feuer zurück.
Seachlann trat an der Tür beiseite, um sie hineinzulassen. Drinnen war es erstaunlich hell, die Sonne schien durch die Öffnungen, die als Fenster dienten.
Er bedeutete ihnen, sich auf die mit Getreide und Mehl gefüllten Säcke zu setzen. Dann ließ auch er sich nieder.
»Vorsicht, mein Freund«, sagte er auf einmal zu Eadulf. »Dieser Sack steht zu dicht an der Welle, ich will nicht, daß dir etwas zustößt.« Eadulf setzte sich auf einen anderen Sack. Der Müller lächelte Fidelma an und sagte: »Siehst du, ich kenne die >Rechte des Wassers< aus dem Buch von Acaill.«
»Ich habe erfahren, daß sich dein Bruder nicht so gut mit dem Recht auskennt, Seachlann«, erwiderte Fidelma. Dann erläuterte sie dem etwas erstaunten Eadulf: »Seachlann bezieht sich auf ein Gesetz zu Bußgeldern und Entschädigungen, wenn Leute in einer Mühle und deren Mahlwerk zu Schaden kom-men.« Sie blickte wieder zu Seachlann. »Du bist offenbar ein gewissenhafter Müller.«
Vor Stolz schwoll Seachlann sichtlich an. »Ich bin ein saer-muilinn«, sagte er.
Eadulf wurde klar, daß er einem höheren Berufsstand angehörte und kein bloßer Müller war, wie Fidelma vermutet hatte. Ein Mühlenbauer betrieb nicht nur die Mühle, sondern entwarf und konstruierte sie auch. Fidelma senkte anerkennend den Kopf.
»Kommen wir zum Grund unseres Besuches, Seachlann.«
Der Mühlenbauer zog die Augenbrauen zusammen. »Seid ihr wirklich hier, um die Wahrheit herauszufinden, oder nur, um jene zu schützen, die eure Gewänder tragen?«
Fidelma beschloß, Seachlann zugute zu halten, daß er der Vater eines der heimtückisch ermordeten Mädchen war.
»Seachlann, ich habe geschworen, der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu dienen. Die Wahrheit muß siegen, ganz gleich, ob der Himmel über unseren Häuptern einstürzt oder sich die Meere über uns erheben.«
Seachlann sah sie eine Weile an, als wolle er das Gewicht ihrer Worte an ihrer Miene ablesen.
»Was willst du wissen, Lady?«
»Erzähl mir von Escrach und berichte, was in der Todesnacht geschah«, forderte ihn Fidelma auf.
Er seufzte tief auf.
»Escrach war erst siebzehn, stand in der Blüte ihrer Jugend, war eine Schönheit geworden.«
Fidelma wußte, daß Escrach »blühend« oder »knospend« bedeutete, ging aber nicht weiter darauf ein.
»Sie war unsere ganze Hoffnung. Da sie jetzt das Alter der freien Partnerwahl erreicht hatte und bald heiraten würde ...«
»Ich vermute, Escrach und Gabran hatten ernste Absichten?«
Der Müller sah erst überrascht aus, dann schüttelte er den Kopf. »Sie waren Freunde aus Kindertagen, mehr ist mir nicht bekannt. Escrach kam mit vielen Jungen und Mädchen von hier gut aus, wie etwa mit Beccnat und Ballgel. Gemeinsam gingen sie zu dem Alten zum Unterricht, der ihnen von früheren Zeiten erzählte. Da versammelten sich immer viele Kinder. Auch Gabran und Creoda.«
»Bei dem Alten?« fragte Eadulf.
»Bei Liag. Er lehrt Sternenkunde.«
»Ach ja. Und wer ist Creoda?«
»Ein Junge, der in Lesrens Gerberei arbeitet.«