»Garran ist ein kleiner Wald oder ein Weg durch einen Wald«, erwiderte eine männliche Stimme zu seinen Füßen. Sie kam von einem dünnen, drahtigen Mann mit rötlich hellem Haar. Er hatte gerade seine Schultern durch die Luke geschoben.
Fidelma wandte sich sofort um. Erstaunt erkannte sie Gobnuid.
»Richtig. In deiner Sprache, Eadulf, habt ihr das Wort graf dafür, glaube ich.«
Eadulf nickte. Ihm fiel auf, daß sie den Ankömmling mit funkelnden Augen betrachtete.
»Das Land der Wäldchen. Die Bezeichnung ist wohl angemessen.«
»Man hat mich geschickt, euch mitzuteilen, daß eure Pferde bereitstehen«, verkündete Gobnuid, der nun bei ihnen angelangt war. »Accobran wartet unten auf euch.«
»Danke«, sagte Fidelma kühl. »Wir haben gerade die herrliche Landschaft bewundert. Von hier oben kann man sie gewiß am besten überschauen.«
»So ist es«, stimmte ihr der Schmied zu und blickte sich um, als sähe er das alles zum erstenmal.
»In welcher Richtung befindet sich die Hütte von Goll, dem Holzfäller?«
»Südwestlich, hinter dem Eberdickicht, auf der anderen Seite des Flusses.«
Fidelma blickte auf die dunkelgrünen Baumwipfel, die sich über den Hügel zogen, auf den Gobnuid gedeutet hatte.
»Das wird sicher ein vergnüglicher Ritt«, meinte sie.
Der Schmied nickte zerstreut.
»Solltest du dich jetzt nicht auf den Weg machen? Accobran wartet unten«, wiederholte er.
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte Fidelma leise.
»Nach dir, Lady.« Der Schmied ließ ihr an der Luke den Vortritt.
Eadulf sagte rasch: »Ich gehe voran.« In Wahrheit wollte er so schnell wie möglich diesen ungeschützten, gefährlichen Ort verlassen. Ohne auf eine Antwort zu warten, kletterte er auf die Leiter und hoffte, daß Fidelma seine Eile nicht bemerken würde. Sie folgte ihm, dann kam der Schmied.
Eadulf war auf halber Höhe der ersten Leiter angelangt, als er spürte, daß die Sprosse, auf die er seinen Fuß gesetzt hatte, nachgab und mit einem lauten Knacken zerbrach. Wenn er sich in seiner Ängstlichkeit nicht schon vorher an den Holmen festgeklammert hätte, wäre er womöglich ab gerutscht und die ganzen fünf Stockwerke in die Tiefe gestürzt. Es schien ihm eine Ewigkeit, daß er nur an seinen Armen hing und seine Füße frei in der Luft baumelten. Dann hangelte er sich eine Sprosse tiefer und hatte mit den Füßen wieder festen Halt.
»Ist alles in Ordnung, Eadulf?« fragte Fidelma besorgt über ihm.
»Es ist mir schon besser gegangen«, erwiderte Eadulf leise, als er sich wieder sicher fühlte. »Eine der Sprossen ist unter meinen Füßen weggesplittert. Laß dich vorsichtig hinunter. Ich werde dir über die Stelle hinweghelfen.«
Er wartete, bis sie näher heran war.
»So«, rief er. »Die nächste Sprosse fehlt. Laß dich mit den Händen herab und taste dich weiter. Gut so. Dein Fuß ist auf der Sprosse.«
Fidelma zögerte etwas. Als sie an der zerbrochenen Sprosse vorbeikletterte, untersuchte sie die Stelle sorgfältig. Sobald sie bei ihm war, fragte sie besorgt: »Bist du sicher, daß alles in Ordnung ist?«
Er nickte. »Ich werde besser wieder vorangehen.« Er lächelte tapfer. »Das hätte unangenehm werden können. Das Holz muß morsch gewesen sein.«
Gobnuid folgte ihnen rasch. Er wirkte nervös.
»Ein Unfall? Ich glaube, du hast recht. Das Holz scheint an manchen Stellen brüchig und muß ausgewechselt werden.«
Eadulf blickte neugierig von Gobnuid zu Fidelma und schwieg. Er spürte die Spannung zwischen ihnen. Als sie den Turm verließen, wartete Accobran schon auf sie. Er merkte, daß etwas nicht stimmte.
»Was ist passiert?« fragte er.
»Eine der Leitersprossen war kaputt«, erwiderte der Schmied hastig, als müßte er sich rechtfertigen. »Niemand hat sich verletzt.«
»Zum Glück hatte sich Eadulf an der Leiter gut festgehalten«, fügte Fidelma hinzu, »sonst hätte die Sache übel ausgehen können.«
Gobnuid entschwand in Richtung Schmiede. Accobran sah dem Schmied mit zornigem Blick nach. Zuerst schien es sogar, als wolle er ihm folgen, doch da brachte ein Stalljunge die Pferde.
»Warum hast du Gobnuid beauftragt, uns zu holen?« fragte Fidelma den Tanist. »Ein Schmied hat sicher Wichtigeres zu tun, als den Boten zu spielen. Der Stallbursche hätte uns Bescheid sagen können.«
Accobran zuckte mit den Schultern.
»Gobnuid war gerade da. Er mußte heute früh meine Stute neu beschlagen«, verteidigte er sich. »Er bot sich selbst an.«
Accobran schickte den Burschen wieder fort und stieg auf sein Pferd. Fidelma und Eadulf taten es ihm gleich, und bald trabten sie durch das Tor von Rath Raithlen.
Der Ritt über die Waldpfade war angenehm, und als hätten sie sich darauf geeinigt, ritten sie die meiste Zeit über schweigend hintereinander.
Sie kamen über den waldigen Hügel mit dem eigenartigen Namen Eberdickicht, dann durchquerten sie den Fluß Tuath bei einer Furt. Mitten im Fluß hielt Accobran auf einmal an und zeigte auf die Hügel vor ihnen. Feierlich verkündete er: »Ein Wald im prächtigsten Farbenkleid. Die Seufzer der wispernden Blätter steigen empor in den lauschenden Himmel. Selbst Städte wirken wie trübe Behausungen, verglichen mit den ehrwürdigen schattigen Wäldern, die schon alt waren, als man den ersten Stein auf einen anderen setzte.«
Fidelma schreckte auf, denn Accobran hatte soeben Griechisch gesprochen.
»Ich hatte keine Ahnung, daß du Griechisch kannst.«
»Ein bißchen Griechisch, Hebräisch und Latein beherrsche ich, denn ich habe ein paar Jahre im Kloster Molaga gelebt, weil ich Mönch werden wollte. Doch irgendwann merkte ich, daß meiner Hand das Schwert besser anstand als der Federkiel. Da habe ich meinem Onkel Becc in den Kämpfen gegen die Ui Fidgente gedient, die immer wieder in unser Territorium einfallen wollten.«
»Und so wurdest du zum Tanist gewählt, zu Beccs Nachfolger?«
»Das war vor zehn Monaten«, bestätigte Accobran lächelnd. »Während Becc Einfluß und Ansehen als Stammesfürst genießt, habe ich das Vergnügen, zu Pferde das ganze Gebiet zu durchqueren und dafür zu sorgen, daß überall Recht und Ordnung herrschen und sich niemand beschweren muß.«
Fidelma blickte ihn mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an. »Und das gefällt dir nicht?«
»Wieso?« fragte Accobran überrascht. »Aber ja doch. Das ist meine Aufgabe. Später, wenn ich einen Tanist an meiner Seite habe, wird er sich um diese Dinge kümmern, und ich erledige die angenehmeren Aufgaben eines Fürsten. So ist der Lauf der Dinge. Bruder Eadulf«, er deutete mit einem Nicken auf ihn, »hat auch nichts gegen die Tonsur, die er trägt. Er wäre doch nicht Mönch geworden, wenn er nicht die Kutte tragen und die Pflichten erfüllen wollte, die damit verbunden sind? Genausowenig habe ich etwas gegen die Pflichten, denen ich als Tanist nachkommen muß.«
Sie ritten weiter durch die dunklen Wälder und versuchten, unter den dichten Bäumen den schmalen Pfad nicht zu verlieren.
Plötzlich hörten sie jemanden ganz in der Nähe rufen. Sie brachten ihre Pferde zum Stehen.
Es folgte ein Geräusch, als würde etwas umgehauen; Krachen und Knacken war zu vernehmen, als würden Reiter durch das Unterholz preschen. Die Pferde scheuten nervös. Eadulf, der nicht gerade der beste Reiter war, kam beinahe zu Fall.
»Was zum Teufel ...?« setzte er an. »Werden wir angegriffen?«
Accobran lachte und klopfte den Hals seines Pferdes, um es zu beruhigen.
»Das ist nicht der Teufel, Sachse. Es ist nur ein Baum, der gefällt wurde. Nach dem Gesetz ist der Holzfäller, der gerrthoir, verpflichtet, vor dem Fällen einen Warnruf auszustoßen.«
Nun hörten sie eine Axt in etwas schlagen.
»Hier entlang«, rief Fidelma und führte ihr Pferd sicher in die Richtung, aus der das Geräusch kam.