Auf einmal überkamen sie Schuldgefühle.
In den letzten Tagen hatte sie nicht einmal an Klein Alchü gedacht. War sie deshalb eine Rabenmutter? Sie brachte ihr Pferd zum Stehen. Sie erinnerte sich daran, was ihr Mentor Brehon Morann einmal im Zusammenhang mit einem Rechtsfall gesagt hatte, in dem ein Vater seine elterlichen Pflichten nicht wahrnahm: »Ein Kind zu gebären ist für eine Frau der Weg zur Allwissenheit.« Doch seit Alchüs Geburt hatte sie zu ihrer Beunruhigung feststellen müssen, daß sie das nicht so empfand. Sie hatte weder das Gefühl, weiser geworden zu sein, noch hatte sich jene Freude eingestellt, die ihr die weibliche Verwandtschaft und ihre Freunde prophezeit hatten. Sie war verwirrt. Alchü war für sie wie ein Band, das sie festhielt, eine Beeinträchtigung ihrer Freiheit statt eine Bereicherung ihres Lebens. Sehnte sie sich tatsächlich nach dieser Art von Freiheit, wie sie sie in diesem Augenblick ausleben konnte?
Was hatte noch Euripides gesagt? Glücklich sind die Eltern, deren Kind ihnen Freude und nicht Kummer ist und das ihre Hoffnungen nicht enttäuscht. Warum brachte sie Klein Alchü nicht Gefühle entgegen, wie man sie von ihr erwartete? Es war ja nicht so, daß sie nicht für ihn sorgte oder ihm gegenüber völlig gleichgültig war. Doch man hatte ihr gesagt, die Geburt eines Kindes sei ein alles veränderndes Erlebnis, das auch sie verändern würde. Aber das war bei ihr nicht der Fall. Vielleicht lag die Schwierigkeit darin.
Plötzlich übermannte sie Zorn, sie trat ihrem Pferd heftig in die Flanken und galoppierte los. Diesmal ließ sie ihm freien Lauf. Ihre rotgoldenen Haare wehten im Wind. Sie hob das Gesicht vergnügt der wohltuenden Kühle entgegen. Hatte Brehon Morann nicht auch gesagt, daß ein Galopp an einem frischen, hellen Tag alle bösen Gedanken aus dem Kopf vertreiben könnte?
Nach einiger Zeit beschloß sie, ihr Pferd zu zügeln und umzukehren, denn sie war ein ganzes Stück über ihr Ziel hinausgeritten. Als sie sich auf die Abtei zubewegte, fühlte sie sich zumindest ausgeglichener. Sie grübelte nicht mehr über ihre Mutterrolle nach.
Die Abtei lag im Schatten eines Hügels. Ein großes Fuhrwerk, das von zwei Pferden gezogen wurde, rumpelte langsam auf sie zu. Der Mann auf dem Kutschbock kam Fidelma irgendwie bekannt vor. Es war Gobnuid.
»So schnell sehen wir uns wieder, Gobnuid«, begrüßte sie ihn.
Als der Schmied auf gleicher Höhe mit ihr war, verfinsterte sich sein Blick. Fidelma schaute auf den Wagen, es lagen Felle darauf.
»Merkwürdig, als Schmied eine Ladung Felle zu transportieren, nicht wahr?« sagte sie. »Du scheinst mehrere Tätigkeiten auszuüben, die nichts mit deinem Handwerk zu tun haben - erst bist du Bote und nun Kutscher.«
Gobnuid ging auf ihren sarkastischen Ton nicht ein.
»Ich nehme immer andere Arbeiten an, wenn es in der Schmiede nichts zu tun gibt«, erwiderte er verdrießlich.
»Wo verkaufst du diese Felle?« fragte sie.
»Die hier gehen an die Küste, ins Kloster Molaga oder zur Abtei von Ard Mhor, wo man daraus Lederwaren herstellt.«
»Und du bringst sie den ganzen weiten Weg dorthin?«
»Ich schaffe sie nur bis zur Brücke von Bandan. Von dort werden sie auf dem Fluß nach Molaga befördert.«
Es kam ihr eigenartig vor, daß der sonst so zugeknöpfte Schmied auf einmal so gesprächig ihre Fragen beantwortete.
»Erzielen sie dort gute Preise?«
Gobnuid verzog mürrisch den Mund. »Egal, was sie einbringen, mein Lohn für den Transport ist immer der gleiche.«
»Also sind es gar nicht deine Felle?«
»Ich bin Schmied und kein Gerber.«
Fidelma wurde immer neugieriger. »Dann machst du die Fuhre für Lesren?«
Gobnuid stieß ein rauhes Lachen aus. »Nicht für Lesren, nicht für diesen ...« Er brach den Satz ab. »Nein, die Felle gehören meinem Herrn Accobran. So, ich muß weiter.«
Der Schmied zog an den Zügeln, und das Fuhrwerk setzte sich in Bewegung. Es hinterließ tiefe Rinnen auf dem schlammigen Weg. Fidelma blickte eine Weile darauf, dann ritt sie weiter zur Abtei. Warum hatte Gobnuid ihr so bereitwillig Auskunft gegeben? Sie war sich sicher, daß er für den heimtückischen Anschlag am Morgen verantwortlich war. Eadulf hatte sie es nicht gesagt, aber sie hatte an der Bruchstelle der Leitersprosse deutlich die Spuren eines Messers bemerkt. Das Holz dort war keineswegs morsch gewesen, jemand hatte die Sprosse absichtlich fast ganz durchtrennt, so daß sie zerbrechen mußte, sobald jemand darauf trat.
Bruder Solam, der Verwalter der Abtei, kam ans Tor, um sie zu empfangen. Fidelma schwang sich vom Pferd. Solam hatte gerade mit einem anderen Mönch zusammengestanden, auf dessen Kutte der Staub einer langen Reise lag. Er hielt sein Pferd noch am Zügel. Bruder Solam begrüßte sie respektvoll.
»Wenn du Abt Brogan sprechen willst, Schwester, mußt du dich ein wenig gedulden. Der Abt ist soeben in seine Zelle gegangen, um zu meditieren. Es ist uns nicht erlaubt, ihn dabei zu stören.«
»Dann wollen wir das auch nicht tun, zumal ich gar nicht mit dem Abt reden wollte«, erwiderte sie.
Der andere Mönch kam auf sie zu. Auf seinem eulenhaften Gesicht zeichnete sich ein freundliches Lächeln ab, als würde er sie kennen. Fidelma jedoch konnte ihn nicht einordnen. Er war dunkelhaarig und ziemlich hager.
»Schwester Fidelma? Fidelma von Cashel?« fragte der Fremde. Noch ehe Fidelma nicken konnte, fuhr der Mann fort: »Ich bin Tüan, der Verwalter des Klosters Molaga. Ich war in der Abtei von Ard Mhor, als du dort im letzten Jahr zu Besuch weiltest. Ich glaube nicht, daß du dich an mich erinnerst, oder?«
Fidelma wollte nicht lügen, sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Viel wichtiger war ihr der Umstand, daß der Fremde aus dem Kloster Molaga kam.
»Bist du eben erst hier eingetroffen?« fragte Fidelma interessiert.
Bruder Tüan nickte. »Bruder Solam hat mir gerade erzählt, wie ratlos man hier ist und daß man dich gebeten hat, zu helfen.«
Fidelma entschied kurzerhand, daß ihr eigentliches Vorhaben noch ein wenig warten konnte. Sie blickte sich um. Unter einem Apfelbaum im Innenhof stand eine Bank. Sie zeigte darauf.
»Wollen wir nicht einen Moment Platz nehmen, ich würde gern deine Meinung hören, Bruder Tüan. Du entschuldigst uns doch, nicht wahr?« sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln zu Bruder Solam.
Bruder Solam schien wenig begeistert, dennoch erwiderte er: »Ich werde Bruder Tüans Pferd versorgen. Soll ich dein Pferd zum Stall führen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich bleibe nicht lange.«
Bruder Tüan und Fidelma setzten sich auf die Bank unter dem Apfelbaum, an dem noch viele Äpfel hingen.
»Ich nehme an, daß du im großen und ganzen weißt, was hier passiert ist?« fragte Fidelma ohne viele Umschweife.
»Es heißt, daß hier ein Verrückter sein Unwesen treibt, Schwester. Einer, der bei Vollmond tötet«, erwiderte der Mönch.
»Ist dir auch bekannt, daß ein junger Holzfäller, Gab ran, vom Vater eines der Opfer des Mordes beschuldigt wird?«
»Die Beweise sprechen dagegen«, erwiderte Bruder Tüan auf der Stelle. »Man wird dir sicher gesagt haben, daß sich Gabran in der Mordnacht bei uns im Kloster aufhielt.«
»Und das kannst du persönlich bestätigen?« fragte Fidelma.
»Das kann ich.«
»Ganz sicher?«
Bruder Tüan schob rechtfertigend sein Kinn vor. »Ich bin der rechtaire, der Verwalter des Klosters, und es gehört zu meinen Pflichten, zu wissen und festzuhalten, was Tag für Tag geschieht. Sollte ich da etwa den Monat und die Zeit des Vollmondes nicht kennen? Ich erinnere mich sehr gut an jenen Mond und an den Besuch des Burschen, weil, und das sage ich dir ganz im Vertrauen, Schwester, zwei unserer Brüder Gabran zurück ins Kloster tragen mußten. Man hatte ihn volltrunken in einer Hafenschenke gefunden. Offenbar war er wohl das erstemal von seinen Eltern fort und dabei in schlechte Gesellschaft geraten. Es war pures Glück, daß er das Geld, das das Kloster seinem Vater schuldete, bis zu seiner Heimkehr noch in unse-rer Obhut gelassen hatte. Er wurde zwar ausgeraubt, hat aber nicht viel eingebüßt.«