»Du weißt, wofür Selene steht, nicht wahr?« erkundigte sich Fidelma.
»Ich weiß, daß sie bei den heidnischen Griechen die Mondgöttin darstellte.«
»So ist es. Selene war die Tochter von Hyperion und Theia, und sie war die Mondgöttin. Eos war ihre Schwester, die Göttin der Morgenröte. Selene verliebte sich in Endymion, den König von Elis, einen Menschen, und da sie nicht mit ansehen wollte, wie er älter und gebrechlicher wurde, verbannte sie ihn in eine Höhle und versenkte ihn in tiefen Schlaf, damit er für immer jung bliebe.«
Bruder Solam schaute sie ehrfürchtig an. »Meine Kenntnisse lassen sich nicht mit deinen vergleichen, Schwester. Aber mir war klar, daß sie in jener Nacht über den Mond sprachen.«
»Wie ging es weiter?« fragte Fidelma. »Was hast du dann gemacht?«
»Ich kehrte ins Kloster zurück.«
»Und du hast weder dem Abt davon berichtet noch die Fremden und Accobran zur Rede gestellt?«
»Nein, das habe ich nicht getan.«
»Am nächsten Tag fand man Escrach ermordet auf dem Hügel. Warum hast du nicht spätesten dann die Sache Abt Brogan mitgeteilt?«
»Vielleicht, weil ich ein Feigling bin. Doch wie konnte ich sicher sein, mein Leben nicht zu gefährden, wenn ich preisgab, was ich in jener Nacht gesehen und gehört hatte? In letzter Zeit haben die Emotionen gegen unsere Abtei und die Mönche hier hohe Wellen geschlagen. Da konnte ich schlecht enthüllen, daß ich in der Mordnacht allein auf dem Hügel war und sogar mit Escrach gesprochen hatte. Falls einer der Fremden mit ihrer Ermordung zu tun hatte und ich als einziger Zeuge aussagen müßte, hätte ich vielleicht mein Leben verwirkt. Und dann ist da noch die Tatsache, daß Ac-cobran der Kutscher war und von einer Arbeit sprach, die sie bei Mondlicht verrichten müßten. Er hatte die Worte >Opfer der Nacht< gebraucht. Ich erinnere mich ganz genau daran. Auch wenn ich nicht deine hervor-ragenden Kenntnisse über die Griechen besitze, bin ich doch wenigstens ihrer Sprache mächtig.«
Fidelma saß einen Augenblick nachdenklich da, dann seufzte sie. »Du hast mir sehr geholfen, Bruder Solam. Ich werde das, was du mir anvertraut hast, für mich behalten, bis ich glaube, daß es von Nutzen ist. Ich werde niemandem von unserer Unterhaltung berichten, außer meinem Gehilfen Bruder Eadulf. Ich bürge für seine Verschwiegenheit. Und nun vergiß all deine Ängste.«
Bruder Solam wirkte erleichtert und erging sich in längeren Dankestiraden. Fidelma unterbrach ihn mit erhobener Hand und stand auf.
»Danke für deine Aufrichtigkeit, Bruder Solam. So, jetzt würde ich mich gern mit Bruder Dangila unterhalten.«
»Bruder Dangila?« Der Verwalter wirkte verlegen. Er sah sich nervös um. »Ich sagte doch, daß ich nicht weiß, um welchen Fremden es sich in jener Nacht handelte.«
»Es geht nicht um deine Geschichte. Ich will ihn in einer anderen Angelegenheit sprechen.«
Bruder Solam beruhigte das nicht.
»Ich weiß nicht ...«, fing er an.
»Was gibt es?« fragte Fidelma.
Bruder Solam fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Bruder Dangila ist nicht hier.«
Fidelma musterte den Mönch von oben bis unten. »Nicht hier? Wo ist er denn?«
»Bruder Dangila hat die Abtei zu einem Spaziergang verlassen.«
»Wenn ich mich recht erinnere, hat Abt Brogan angewiesen, daß die drei Gäste in der Abtei bleiben sollen, bis der Fall geklärt ist. Die Leute haben versucht, Bruder Dangila und seine Gefährten umzubringen, weil sie meinen, daß sie die Morde verübt haben. Bruder Dangilas Leben könnte in Gefahr sein, wenn man ihn draußen antrifft. Es ist deine Pflicht zu verhindern, daß den Gästen etwas zustößt.«
Bruder Solam machte eine hilflose Geste. »Ich habe es ja versucht, ihn zurückzuhalten, Schwester. Doch mit Bruder Dangila läßt sich nicht reden. Er bestand darauf, einen Spaziergang zu unternehmen.«
»Hast du ihm die Gefahr vor Augen geführt? Du hättest mich sofort davon unterrichten müssen. Falls man Bruder Dangila allein und ohne Schutz antreffen sollte ...« Fidelma verlor keine Zeit und lief zu ihrem Pferd zurück. »In welche Richtung ist er gegangen?« rief sie, während sie aufsaß.
»Er ist öfter in jene Richtung gelaufen«, sagte Bruder Solam und zeigte auf das schattige Eberdickicht, das sich über dem Kloster erhob. »Er ist oft ...«
Doch noch ehe er weitersprechen konnte, war Fidelma bereits in den Wald galoppiert, genau in die Richtung, in die der Verwalter gewiesen hatte.
Es war einfach unverantwortlich von Bruder Solam, dem fremden Mönch zu erlauben, sich allein vom Kloster zu entfernen. Solch eine Gedankenlosigkeit machte sie wütend. Ihr Pferd erklomm mühelos den Hügel. Der Wald wurde immer lichter. Bald gelangte sie auf einen kahlen Felsen. Dort standen ein paar verwitterte große Steine, als seien sie in grauer Vorzeit hingeschafft worden, um einen Steinkreis zu bilden. Offensichtlich hatte man das Vorhaben nur halb ausgeführt, denn die Felsbrocken lagen verstreut da, der Kreis war nur halb geschlossen. Da sah sie Bruder Dangila auch schon. Es saß auf einem der Steine, das Kinn auf eine Hand gestützt, der Ellbogen ruhte auf einem Knie. Er schien in die Weite des Himmels zu blicken.
Als er ihr schnaufendes Pferd herannahen hörte, wandte er sich um. Er erhob sich und wartete auf sie. Sein Gesicht blieb unverändert.
Sie ließ sich vom Pferd herab, und er begrüßte sie mit starkem Akzent, aber in ihrer Muttersprache: »Gesegnet seist du, Fidelma von Cashel.«
»Es ist sehr unklug, so allein unterwegs zu sein, Bruder Dangila«, erwiderte sie ohne Umschweife auf griechisch. »Die Leute hier sind immer noch in Panik, und wir sind weit davon entfernt, geklärt zu haben, wer der Mörder ist. Du solltest dich nicht außerhalb des schützenden Klosters aufhalten.«
Bruder Dangila neigte würdevoll den Kopf.
»Danke, daß du dich so um mich sorgst, Fidelma von Cashel«, antwortete er nun auch auf griechisch. »Der Gott König Salomos wird mich beschützen. Ich fürchte mich nicht.«
Fidelma schlang die Zügel ihres Pferdes um einen kleinen Strauch und setzte sich dann auf einen der Steine, die längs hingestreckt lagen. Der hochgewachsene Aksumiter nahm ebenfalls wieder Platz und betrachtete sie neugierig.
»Der Abt hatte mir versichert, daß du die Abtei nicht verlassen würdest«, sagte sie gereizt.
»Hast du mich nur aus Sorge um mein Wohlergehen gesucht?« fragte er. Er lächelte dabei leicht, als wüßte er es besser. Einen Moment lang war Fidelma verlegen. Auf einmal fixierten ihre Augen sein weißes wollenes Gewand.
»Heute trägst du ja gar nicht dein silbernes Kreuz«, stellte sie fest.
Sofort fuhr Bruder Dangilas Hand an seinen Hals. Er zögerte erst, doch dann nickte er. »Ich muß es im Dormitorium vergessen haben. Keine Angst. Dort liegt es gut, ich glaube, ich weiß auch, wo. Hat dich also doch die Sorge um mich hierhergeführt?«
Dabei hob sich fragend eine Augenbraue, die einzige Regung im Gesicht des fremden Mannes.
»Sind das die Steine, die man den Steinkreis der Wildschweine nennt?« fragte sie.
»Ich glaube, ja«, erwiderte Dangila ernst. »Die Steine sehen aus wie kleine Frischlinge, die sich um die Bache geschart haben.«
»Und hier wurde ...?« Sie ließ die Frage offen.
»So hat man es mir gesagt.«
Sie wartete eine Weile, und als ihr Gegenüber nicht sprach, fragte sie: »Kommst du oft hier auf den Hügel, um zu meditieren?«
»Mein Volk sinnt gewöhnlich auf diese Weise über die Werke des Gottes von König Salomo nach, aus dessen Samen mein Volk abstammt«, erwiderte Bruder Dangila. »Steht nicht in den Psalmen geschrieben: >Wenn ich sehe den Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst?<«