»Hat Tomma etwa die Leiche unbewacht gelassen, als er zur Festung eilte?«
»Nein. Er und Creoda hatten das grausige Verbrechen entdeckt. Er hat dann Bebhail gerufen. Sie sagte, sie würde bei dem Toten bleiben, während sich Tomma zur Festung aufmachte.«
Sie banden ihre Pferde an das Geländer vor dem Haupthaus.
»Wo ist Bebhail?« fragte Fidelma und sah sich rasch um. Von der Frau fehlte jede Spur. Accobran zuckte die Schultern.
Als sie sich dem Wald näherten, sah Fidelma schon von weitem, daß der Ermordete auf dem Rücken lag -lang hingestreckt und friedlich, als warte er auf seine Bestattung. Offensichtlich hatte jemand Lesren sorgfältig aufs Gras gebettet und die Arme über der Brust gefaltet. Als Fidelma den Toten genauer betrachtete, fiel ihr auf, daß man ihn sogar gewaschen hatte. Beinahe hätte sie ärgerlich losgezischt. Wichtige Indizien waren nun verloren. Wütend blickte Fidelma Tomma an.
»Hast du das getan?« Sie zeigte auf die Leiche. Im selben Moment wurde ihr bewußt, daß ihre Geste falsch verstanden werden konnte. Sie fügte hinzu: »Hast du die Leiche so ordentlich hingelegt und sie gesäubert?«
Tomma war etwa genauso alt wie Lesren. Ihre Frage überraschte ihn sichtlich; er schüttelte den Kopf.
»Nein, Schwester. Das war Bebhail.«
»Du hättest sie davon abhalten müssen«, tadelte Eadulf ihn. »Wo ist sie denn jetzt?«
»Bebhail ist in der Hütte«, erwiderte Tomma. »Sie ist zusammengebrochen, und es wäre sinnlos, ihr deswegen Vorhaltungen zu machen.«
»Deine Rücksichtnahme in Ehren, Tomma, aber das erschwert natürlich meine Arbeit ungemein«, meinte Fidelma. Sie beugte sich hinunter und sah sich den Toten genauer an. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen.
»Tomma, erinnerst du dich, wie er dalag, als ihr ihn gefunden habt?« fragte sie. »Wie mag er wohl zu Tode gekommen sein? Ja, und wie bist du auf die Leiche gestoßen?«
Der Gehilfe trat nervös von einem Bein aufs andere. »Es war kurz nach Mittag. Es gab nicht mehr viel zu tun, also hatte Lesren die anderen Arbeiter bereits nach Hause geschickt. Da bin ich ihm das letztemal lebend begegnet, Schwester. Ich ging auch heim, kam aber am Nachmittag wieder, um Lesren und Creoda beim Abnehmen der großen Häute zu helfen .«
»Creoda? Was hatte der hier zu tun?«
»Er gehört zu den jüngeren Gehilfen in der Gerberei. Wir konnten Lesren nirgends finden, also lief ich zum Haus. Bebhail war da, sagte aber, sie hätte ihren Mann seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Da machten wir uns auf die Suche nach ihm.«
»Und fandet ihr ihn?«
»Ja, wir fanden ihn.«
»Tot?«
Tomma zögerte. »Noch nicht ganz.«
Fidelma hob den Kopf und sah ihm genau ins Gesicht. »Willst du damit sagen, daß er noch am Leben war?«
»Er lag im Sterben.«
»Hat er noch etwas gesagt?«
Wieder zögerte Tomma. »Er hat etwas vor sich hin gemurmelt. Ich konnte nur den Namen Biobhal verstehen.«
»Biobhal? Nicht Bebhail? Hat er nicht nach seiner Frau gerufen?«
»Nein. Ich hörte ganz deutlich Biobhal. Das habe ich auch zu Creoda gesagt, denn Lesren starb, als er den Namen aussprach. Ich kenne niemanden, der so heißt.«
»Wo ist Creoda eigentlich jetzt?«
»Er ist nach Hause gegangen.« Tomma machte eine entschuldigende Geste. »Creoda ist kaum achtzehn, er wohnt nicht weit von hier. Ich schätze, daß ihm das Ganze hier Angst einjagte und ...«
»Schon gut. Wir werden Creoda später aufsuchen. Wo steht seine Hütte?«
Tomma zeigte nach Westen. »Den Weg am Fluß entlang, zwischen den Bäumen. Ihr könnt sie nicht verfehlen.«
»Sehr gut. Wo also habt ihr nun Lesren genau gefunden?«
»Hier bei den Bäumen. Da lag er, aber ganz anders. Ein Bein war angewinkelt, das andere unter den Körper geschoben. Die Arme waren ausgestreckt - so.« Tomma öffnete nun selbst die Arme.
»Und nachdem er den unbekannten Namen gemurmelt hatte, war dir klar, daß er tot war?«
Tomma dachte eine Weile nach. »Da war ich mir ziemlich sicher. Überall befand sich Blut. Creoda war fortgerannt. Ich holte Bebhail. Sie bat mich, zur Festung zu laufen.«
»Wann fing sie an, den Toten zu reinigen?«
Jetzt antwortete Eadulf: »Als wir Tomma und Bebhail hier zurückließen, lag er noch so da, wie Tomma ihn gefunden hat.«
Der Gehilfe nickte. »Nachdem sich der Tanist und der Bruder zu dir auf den Weg gemacht hatten, meinte Liag, daß Bebhail sich um ihren toten Mann kümmern sollte.«
Diese Mitteilung traf Fidelma wie ein Schlag. »Der alte Heilkundige? War der etwa auch hier? Was hatte der denn hier verloren?«
Sie schaute Eadulf und Accobran an, doch ihre erstaunten Mienen verrieten ihr, daß auch sie erst jetzt davon erfuhren. Daß Liag hier gewesen war, das war für sie ebenfalls neu.
»Gleich nachdem der sächsische Bruder und unser Tanist aufgebrochen waren, kam Liag aus dem Wald und sah sich Lesren an«, erklärte Tomma. »Er wies Bebhail an, mit den Vorkehrungen zur Bestattung zu beginnen.«
Fidelma verfluchte den Heilkundigen insgeheim. »Und das tat sie dann auch, oder?«
»Wie du selbst siehst.«
»Du weißt nicht genau, zu welcher Stunde Liag hier auftauchte?«
Tomma zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, daß ich hier mit Bebhail allein war. Als der Tanist und der sächsische Bruder fort waren, war er plötzlich da.«
Fidelma machte sich daran, die Kleider des Toten aufzuknöpfen. Wunden am Hals und auf der Brust zeigten, daß jemand mehrmals auf ihn eingestochen hatte. Ein Rasender mußte ihn angegriffen haben, denn die Wundränder waren stark ausgefranst. Ein Jagdmesser oder das Skalpell eines Arztes hinterlassen saubere Einstiche, schoß ihr durch den Kopf. Man hatte Lesren zweimal von hinten in den Nacken gestochen, dann in die Kehle, dann einmal in die Brust.
Fidelma erhob sich und schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte nichts Aufschlußreiches feststellen können. Noch einmal besah sie sich den Tatort genau, konnte aber weder die weggeworfene Tatwaffe entdecken noch ein anderes bedeutendes Detail. Zu viele Spuren waren bereits verwischt worden.
»Dann wollen wir jetzt zu Bebhail gehen«, sagte sie. »Du bleibst am besten hier, Tomma. Sorge dafür, daß niemand die Leiche anfaßt, bis ich es erlaube.«
Als sie außer Hörweite waren, sagte Accobran mit gewissem Nachdruck zu ihr: »Bei genauer Betrachtung gibt es in diesem Fall eine Reihe von Verdächtigen. Ich glaube, ich sollte sie alle festnehmen lassen.«
Fidelma wußte, was in ihm vorging, doch sie wollte, daß er sich klarer ausdrückte. »Um wen handelt es sich deiner Meinung nach?«
Ungeduldig gestikulierte der Tanist mit den Händen. »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Wer sonst als Goll oder sein Sohn Gabran kämen in Betracht? Ich habe gehört, wie Lesren Gabran beschuldigte. Und ich habe mitbekommen, in welch unangenehme Lage er die Familie gebracht hat. Ich wüßte schon, was ich als stolzer junger Mann voll Zorn in der Brust tun würde.«
»Wenn du es tun würdest, heißt das nicht, daß es ein anderer getan hat.«
»Ich glaube, daß Lesrens Mörder in der Holzfällerhütte zu suchen ist.«
»Da magst du vielleicht recht haben, Accobran«, stimmte ihm Fidelma zu. »Doch ich werde die Untersuchung des Falls auf meine Weise fortführen und an den Prioritäten festhalten, die ich gesetzt habe.«
Bebhail saß auf einem Stuhl vor dem Feuer. Als sie eintraten, blickte sie auf, ihre Augen waren trocken. Dann sah sie wieder ins Feuer.
»Es ist so unendlich traurig, noch am Leben zu sein, nun, wo Lesren nicht mehr da ist«, murmelte sie. Ihre Stimme klang emotionslos, sie vermochte kaum zu sprechen. Fidelma gab ihren Begleitern durch einen Blick zu verstehen, daß sie sich zurückziehen sollten. Es war wohl besser, wenn sie allein mit der Witwe redete. Sie setzte sich Bebhail gegenüber.