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»Hast du nicht eben gesagt, Bile sei eine Eiche?« fragte Eadulf verwirrt.

»Die Sprache entwickelt sich. Heutzutage nennt man jeden heiligen Baum Bile. Und auch der Gott, der die Seelen mit der Fähre über die heiligen Flüsse oder das Meer ins Jenseits geleitet, heißt so.«

Eadulf, der erst als junger Mann zum christlichen Glauben übergetreten war, wurde unbehaglich zumu-te. Immer versuchte er, seine heidnische Vergangenheit zu leugnen. Fidelma kam mit der alten Götterlehre ihrer Vorfahren offenbar besser zurecht als er, auch wenn das Volk von Eireann das Christentum schon vor etwa zweihundert Jahren angenommen hatte.

»Ich bin einmal durch Londinium gekommen«, erzählte er nachdenklich. »Heutzutage ist der Ort ziemlich verlassen, doch einst war er eine blühende römische Stadt.«

»Davon habe ich gehört«, erwiderte Fidelma.

»Die Welisc, die sich selbst Britannier nennen, lebten einst dort, sogar dann noch, als Rom über die Stadt herrschte.«

Fidelma fragte sich, worauf Eadulf hinauswollte.

»Ich weiß, daß die Welisc viele alte Götter und Göttinnen mit den Iren gemein haben.«

»Das stimmt. Was willst du damit beweisen?«

»Ganz in der Nähe, wo ich wohnte, befand sich ein altes Tor, das Bile hieß und auf den großen Fluß Ta-mesis führte, der an der Stadt vorbeifließt. Ein alter Mann erzählte mir, daß man früher die Köpfe der Toten vom Körper trennte, sie durchs Tor trug und flußabwärts schiffte. Nicht weit entfernt mündete ein Nebenlauf der Tamesis, er hieß der Welisc Brook, dort warf man die Köpfe ins Wasser, zusammen mit Schwertern, Schilden und anderen Waffen. Ein furchtbarer heidnischer Brauch.«

Fidelma lächelte und nickte. »So furchtbar ist er gar nicht. Man glaubte damals, daß sich die Seele eines Menschen im Kopf befände, und um die Toten zu ehren, trennte man häufig die Köpfe ab - wodurch die Seelen befreit wurden - und bewahrte die Köpfe an heiligen Stätten auf. Ist es nicht großartig, daß im Herzen des Landes, das nun den Angeln und den Sachsen gehört, so ein alter Brauch seine Spuren hinterlassen hat?«

Eadulf schüttelte betrübt den Kopf.

»Semel insanivimus omnes«, sagte er. »Wir waren alle einmal töricht. Ich weiß nicht, ob die Leute an so etwas erinnert werden müssen. Es ist ohnehin schwer genug, sie zum wahren Glauben zu bekehren. Das mußten wir doch erst im letzten Jahr erfahren, nicht wahr?«

Eadulf spielte offenbar darauf an, daß manche der sächsischen Königreiche erst vor kurzem wieder zu den alten Göttern ihrer Vorfahren zurückgekehrt waren. So hatte zum Beispiel Sigehere, König von Ostsachsen, ein Land an der Grenze zu Eadulfs Land der Ostangeln, vor zwei Jahren nach einer verheerenden Pest die alten heidnischen Tempel wieder geöffnet.

»Du kannst keine Zukunft aufbauen, wenn du das Wissen der Vergangenheit verdrängst oder es zu vernichten versuchst. Der Bericht von Bischof Benignus, dem Nachfolger des heiligen Patrick in Armagh, macht mich ganz traurig, denn er schreibt, daß Patrick hundertachtzig Schriften der Druiden verbrannt hat, um das Volk zum Christentum zu bekehren. Die Zerstörung von Wissen, von jeglichem Wissen, ist keine gute Grundlage für die Zukunft.«

»Du kannst doch nicht die Vernichtung des Heidentums ablehnen, wenn du dich dazu verpflichtet hast, die Menschen zum Christentum zu bekehren!« Eadulf war entsetzt.

»Ich will nur sagen, der Torheit der Menschen sollte man mit Lachen begegnen und nicht damit, daß man Märtyrer schafft. So hielten es unsere Satiriker stets, darum sieht unser Gesetz auch so hohe Strafen für jene vor, die ohne gültigen Beweis über andere spotten. Castigat ridendo mores.«

Eadulf überlegte.

»Sie sagen sich von alten Bräuchen los, indem sie sich darüber lustig machen?« wagte er zu sagen.

Fidelma lächelte. »Mit anderen Worten, das Lachen wird Erfolg haben, wohingegen Bedrohungen, Strafen und gottesfürchtige Lektionen scheitern werden.«

Eadulf seufzte. »Das klingt vielversprechend. Ich bin jedoch sicher, auch dagegen findet sich ein Argument.«

»Sag mir Bescheid, wenn dir eins einfällt. In der Zwischenzeit wollen wir uns unserem Fall widmen.«

Sie ließen ihre Pferde langsam auf den bewaldeten Hügel zulaufen, wo sie Liag schon einmal getroffen hatten.

»Wir sollten nach ihm rufen«, murmelte Eadulf und sah sich nervös um. »Sonst geht er uns vielleicht aus dem Weg.«

»Aus dem Weg? Wieso?« ertönte eine rauhe Stimme hinter ihnen, die sie beide zusammenzucken ließ.

Kapitel 11

Liag war zwischen den Bäumen hinter ihnen hervorgetreten. Er trug - wie bei ihrer ersten Begegnung -ein safranfarbenes Gewand aus Wolle. Das schlohweiße Haar wurde von einem grüngelben Haarreifen zurückgehalten, und um den Hals hing eine Silberkette. Er hatte den traditionellen Leinenbeutel, den lés bei sich, in dem sich seine Heilmittel befanden, und den echlais, einen peitschenähnlichen Stab, der ihn als Heilkundigen auswies.

»Du scheinst erstaunt, mich zu sehen, Fidelma von Cashel.« Er lächelte kaum. Eadulf beachtete er erst gar nicht.

»Du hast dich uns ziemlich leise genähert«, erwiderte Fidelma, während sie vom Pferd glitt.

»Hast du mich etwa nicht gehört? Als ich jung war, lernte man noch, sein Gehör auf die Geräusche des Waldes einzustellen. Man wußte, wie die Eidechse raschelt, wenn sie dem hungrigen Auge des Falken entschlüpft, wie der Dachs durchs Unterholz schleicht und wie der Wiesel heimwärts eilt. Horcht!« Der Alte neigte den Kopf zur Seite und legte in etwas übertriebener Geste seine Hand ans Ohr.

Eadulf war wenig begeistert. Gerade war es ihm gelungen, von seinem unruhigen Pferd abzusitzen und die Zügel um einen Strauch zu schlingen.

»Du willst mir doch nicht weismachen, daß du das alles heraushören kannst?« fuhr er ihn an.

Liag drehte sich zu Eadulf um. »Ich höre, wenn eine Ratte eine Eidechse am Schwanz packt, und ich vernehme den Schrei der Eidechse, wenn sie ihren Schwanz abwirft, um dem Räuber zu entkommen, und heim ins sichere Nest schlüpft.«

Eadulf maß den alten Einsiedler mit Blicken. Er war sich nicht sicher, ob er sich über ihn lustig machte. »Ich höre nichts.«

»So ist es, sächsischer Bruder. So ist es.«

»Wenn du all das hörst, Liag, dann kannst du uns sicher ein paar einfache Fragen beantworten«, sagte Fidelma.

Liag sah sie mißtrauisch an.

»Es heißt, daß jene, die Fragen stellen, ohne Antwort nicht auskommen können«, erwiderte er leise. »Doch nicht jede Frage verdient eine Antwort.«

»Eine gute Erwiderung. Wenn deine Ohren so gut hören können, hast du gewiß die Todesschreie von Beccnat, Escrach und Ballgel vernommen.«

Die Wangen des Alten liefen auf Fidelmas sarkastische Bemerkung hin purpurrot an. »Ich behaupte nicht, allwissend zu sein. Nicht alles, was im Wald vor sich geht, kann ich hören. Wäre ich in ihrer Nähe gewesen ...« Er hob eine Schulter und ließ sie vielsagend fallen.

Fidelma bohrte weiter. »Weiterhin nehme ich an, daß du auch Lesrens letzte Atemzüge erlauscht hast? Wie man mir sagte, warst du ganz in der Nähe, als er starb.«

»Wer sagt denn, daß ich in der Nähe war?«

»Dann weißt du also, daß Lesren umgebracht wurde?« warf Eadulf rasch ein.

»Das streite ich nicht ab«, erwiderte der Heilkundige.

»Du bist aus dem Wald gekommen, als Bebhail und Tomma bei dem Toten standen, nicht wahr?«

»Aber Lesren war tot, mein sächsischer Freund. Soweit ich es beurteilen kann, war er schon eine Weile tot.«