»Was hast du dort gemacht?« fragte Eadulf.
Liag schien belustigt. »Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Sachse, wenn ich den Hügel von Rath Raithlen überquere und dann in diese Richtung gehe, führt mich mein Weg unweigerlich an Lesrens Gerberei vorbei.«
»Und du hast einfach so zu dieser Tageszeit den Weg über den Hügel genommen?« wollte Fidelma wissen.
»Ich bin einfach so an der Gerberei vorbeigekommen, dalaigh«, erwiderte er mit ironischem Unterton. Zum erstenmal gebrauchte er ihren Titel.
»Wo bist du vorher gewesen?«
»Rath Raithlen ist ja wohl der einzige wichtige Ort auf diesem Hügel.«
Fidelma verbarg ihre Überraschung. »Alle sagen, daß du als Einsiedler im Wald lebst und die Außenwelt meidest. Willst du nun behaupten, daß du der Festung des Fürsten einen Besuch abgestattet hast?«
»Genau das habe ich dir bereits gesagt.«
Fidelma zeigte nicht, wie gereizt sie war.
»Woher rührt dieser Wandel, Liag?«
»Das ist kein Wandel. Ob ich unter Leute will oder nicht, das geht nur mich an. Ich bestimme, was ich tue, nicht die anderen. Wenn ich jemanden treffen möchte, dann mache ich das. Umgekehrt genauso.«
»Ließ dich etwas Geschäftliches oder etwas Privates in die Festung gehen?«
»Ein Geschäft war der Anlaß«, bestätigte Liag.
»Entgegenkommend bist du nicht gerade«, stellte Fidelma ungeduldig fest.
»Ich dachte, ich halte mich an das Gesetz, das vorschreibt, die Fragen einer dalaigh zu beantworten.«
Fidelma wußte, daß sie da nichts machen konnte. Liag beantwortete zwar ihre Fragen, verriet dabei aber so wenig wie möglich.
»Erkläre mir bitte, welches Geschäft dich nach Rath Raithlen geführt hat.«
»Ich mußte einen Schmied aufsuchen«, erwiderte er.
»Gobnuid?« platzte Fidelma heraus; sie wollte das Überraschungsmoment ausnutzen. Gobnuid war der einzige Schmied in Rath Raithlen, den sie kannte. Vielleicht würde Liag nun ausführlicher antworten. Doch der nickte einfach nur.
»Welcherart Geschäft bist du dort nachgegangen?«
»Ich verstehe nicht, was das mit deinen Untersuchungen zu tun haben könnte, Fidelma von Cashel. Doch egal, Gobnuid war nicht in seiner Schmiede, also machte ich mich wieder auf den Heimweg.«
»Gobnuid war mit einer Ladung Felle zu einem Händler am Fluß unterwegs. Was wolltest du bei ihm?«
Liag schien erstaunt über das, was sie sagte, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
»Selbst ein Einsiedler benötigt manchmal die Dienste eines Schmieds. Ich wollte ein paar Messer und Äxte schleifen lassen.«
Eadulf blickte Fidelma an.
»Und diese Messer und Äxte ...«, fing er an, aber Liag lachte wieder spöttisch.
»Ich habe sie in der Schmiede gelassen; Gobnuid wird sie schleifen, wenn er wieder da ist. Ich habe Les-ren nicht damit umgebracht, falls du das denken solltest, mein sächsischer Freund.«
»Du findest das alles wohl lustig, Liag«, versetzte Eadulf gereizt, »doch es geht um einen toten Mann und drei tote Mädchen. Die Sache ist wenig erheiternd.«
Mit stechenden Augen funkelte der Alte Eadulf an. »Da hast du recht, sächsischer Bruder. Das gleiche trifft wohl auch auf Schuldzuweisungen zu, die ein Fremder hier in diesem Land ausspricht.«
»Bruder Eadulf hat nichts dergleichen ausgesprochen«, griff nun Fidelma ein. »Und ich ebensowenig. Wir wollen nur Tatsachen feststellen. Eine Schuldzuweisung würden wir so deutlich formulieren, daß keine Mißverständnisse entstehen. So, jetzt schildere du uns, was geschah. Du hast dich auf den Heimweg gemacht, als .?«
Eine ganze Weile stand der Alte einfach nur da und starrte Fidelma an, kalt und herausfordernd. Fidelma blieb ebenfalls völlig regungslos. Schließlich zuckte Liag mit den Schultern und nahm seine Niederlage hin.
»Eigentlich hatte ich vor, Lesrens Gerberei zu umgehen. Ich mag Lesren und seine Leute nicht besonders. Da fiel mir auf, wie ungewöhnlich ruhig es dort war. Sonst ließ Lesren mehrere Männer für sich arbeiten, sie brauten die giftige Brühe zum Gerben und spannten die Häute zum Trocknen auf. In der Stille hörte ich, wie eine Frau weinte.«
Er schwieg kurz.
»Sprich weiter«, forderte Fidelma ihn auf, immer noch verärgert über den Alten.
»Ich stieß auf Bebhail und Tomma, die bei Lesrens Leiche standen. Ich beschloß, der Frau, die so verwirrt und aufgewühlt wirkte, meine Hilfe anzubieten. Tomma konnte sie offensichtlich nicht beruhigen.«
»Und dann?«
»Es gelang mir irgendwie. Sie schien nicht sicher zu sein, ob ihr Mann wirklich tot war oder nicht. Also untersuchte ich ihn und stellte fest, daß er nicht nur tot war, sondern sein Tod schon vor einer ganzen Weile eingetreten sein mußte.«
»Woran hast du das erkannt?« wollte Eadulf wissen.
Liag sah ihn mitleidig an. »Nun, natürlich an der Totenstarre.«
»Warum hast du Bebhail gesagt, sie soll die Leiche waschen und für das Begräbnis vorbereiten?« fuhr Fidelma ihn an.
Liag erwiderte: »Aufgrund ihrer Verfassung hielt ich es für angebracht, daß sie etwas tat, was ihr die Endgültigkeit der Situation bewußt machte. Es wäre falsch gewesen, sie glauben zu lassen, daß ihr Mann irgendwie wieder ins Leben zurückkehren könnte. Es war ein Akt der Barmherzigkeit, sie zu bewegen, sich ganz darauf zu konzentrieren .«
»Ein Akt der Barmherzigkeit, der wahrscheinlich alle Hinweise auf Lesrens Mörder zunichte gemacht hat«, meinte Fidelma ungehalten.
Liag sah sie nachdenklich an. »Das bezweifle ich. Ich konnte nichts Verdächtiges feststellen.«
»Da du flüchtende Eidechsen hören kannst, schätze ich, daß du genauso erfahren bist wie eine dalaigh«, meinte Eadulf ärgerlich.
Liag blickte ihn an. Einen Moment lang flackerte Zorn in seinen Augen auf, doch dann lächelte er versöhnlich.
»Du hast allen Grund, wütend auf mich zu sein, mein sächsischer Freund. Ich war unfreundlich zu dir, und das ist meiner nicht würdig. Machen wir Schluß damit. Ich weiß als Heilkundiger so viel, daß ich sagen kann, die Leiche gab keinerlei Hinweise auf den Mörder.«
Eadulf schluckte seinen Ärger über den gönnerhaften Ton seines Gegenübers herunter. Eine passende Antwort hatte er leider nicht parat.
»Liag, du hast alle vier Toten gesehen. Sind dir dabei irgendwelche Gemeinsamkeiten aufgefallen?« fragte Fidelma eindringlich.
»Nur daß alle mit einem Messer umgebracht wurden, das gezackt und stumpf ist.«
»Wenn das die einzige Gemeinsamkeit ist, was sind die Unterschiede?« bohrte Fidelma weiter.
Liag schaute sie anerkennend an. »Ich würde sagen, daß es einen großen Unterschied zwischen den ersten drei Morden und dem am Gerber gibt.«
»Und der ist?«
»Die ersten drei Opfer waren junge Mädchen. Sie sind aufs übelste zugerichtet und verstümmelt worden. Das vierte Opfer dagegen war ein Mann. Die vielen Einstiche an Hals und Brust deuten auf einen brutalen Mörder hin, doch Lesren wurde nicht verstümmelt. Tomma sagte mir, als er ihn entdeckte, hat er sogar noch ein paar Worte sagen können, die allerdings keinen Sinn ergaben.«
»Er murmelte einen Namen«, bestätigte Fidelma.
»Einen Namen, den keiner kennt, wenn Tomma ihn richtig verstanden hat. Es kann gut möglich sein, daß Lesren sich in einer Art Delirium befand. Wer weiß, was einen verwirrten Geist in den letzten Augenblicken vor dem Tod beschäftigt?«
»Du verfügst über ein großes Wissen, Liag«, erwiderte Fidelma, ohne ihm damit ein Kompliment machen zu wollen. »Du weißt sicher viel über die alten Zeiten, in denen man in dieser Gegend Gold und Silber abbaute.«
Liag neigte leicht den Kopf, er war über diesen Themenwechsel sichtlich erstaunt. »Ja, ich weiß ein wenig darüber Bescheid. Das Erz, das man hier einst in Hülle und Fülle ans Tageslicht beförderte, war sehr wertvoll und von hervorragender Qualität. Doch inzwischen findet man hochwertiges Gold nur noch im östlichen Gebirge von Laighin.«