Nun trat Accobran mit einem Amtsstab ein, mit dem er dreimal auf den Boden klopfte, um für Ruhe zu sorgen. Ihm folgten Becc und anschließend Fidelma und Abt Brogan. Der Fürst nahm seinen Sessel ein, und Fidelma setzte sich zu seiner Rechten, der Abt zu seiner Linken. Accobran ließ sich neben dem Abt nieder.
Becc sah Fidelma an und gab ihr das Zeichen, mit der Verhandlung zu beginnen.
»Es geht hier um einen traurigen Fall«, fing Fidelma ruhig an. »Erfreulicherweise liegt er einfach. Bebhail hat gestanden, ihren Mann Lesren, den Gerber, getötet zu haben. Tomma wiederum hat gestanden, durch seine Falschaussage das Gesetz behindert zu haben. Bebhail und Tomma haben die Umstände des Verbrechens aus ihrer Sicht erläutert. Euer Fürst und ich haben diese Angelegenheit im Beisein des Abts und des Tanist besprochen. Wir haben gemeinsam einen Beschluß gefaßt.«
Sie machte ein Pause und blickte zu Bebhail und Tomma, die mit blassen Gesichtern zu Boden sahen.
»Die Taten wurden gestanden. So bleibt uns nur, das Strafmaß zu verkünden. Möchte einer von euch beiden vielleicht noch etwas äußern, was die Strafen mindern könnte?«
Lesrens Witwe schüttelte den Kopf, doch Tomma schaute auf. Offenbar wollte er gerade zu reden anfangen, da legte ihm Bebhail die Hand auf den Arm, woraufhin er die Augen wieder auf den Boden heftete.
»Nun gut. Bei dem Verbrechen des fingal, das Bebhail vorgeworfen wird, haben wir die Umstände der Tat in Betracht gezogen. Im Cairde-Gesetzestext steht, wie ich schon den beiden Tatgeständigen erklärt habe, daß es gestattet ist, jemanden aus Notwehr zu töten. Und in dem Text heißt es klar und deutlich, daß jede Art von Verletzung des Angreifenden nicht verfolgt wird. Bebhail wurde in einen Zustand getrieben, in dem sie nicht in vollem Umfang für ihre Taten verantwortlich gemacht werden kann, und in diesem Zustand hat sie Lesren getötet. Was die Tat selbst betrifft, so wird das Gericht sie nicht ahnden. Doch«, fuhr Fidelma rasch fort, denn in der Halle erhob sich lautes Gemurmel, »für das verspätete Geständnis erheben wir eine minimale Geldstrafe, denn dadurch wurden unsere Untersuchungen auf gefährliche Weise behindert. Dafür muß Bebhail ihrem Fürsten zwei screpall zahlen.«
Bebhail weinte, doch durch die Tränen schimmerte ein Lächeln. Eine Gerberwitwe konnte diese Geld-strafe leicht aufbringen; auch ihre Verwandten waren zufrieden. Fidelma bat um Ruhe.
Dann wandte sie sich an Tomma, der ganz offensichtlich überrascht war über Bebhails geringes Strafmaß.
»Tomma, ich fürchte, daß von den Vergehen, über die heute hier geurteilt wird, deines schwerer wiegt. Ich habe dir bereits erklärt, daß eine Falschaussage von Gott nicht verziehen wird. Hier gilt nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Für deine Falschaussage hast du die Konsequenzen zu tragen.«
Jetzt umklammerte Bebhail die Hand ihres Gefährten und blickte mit ihrem verheulten Gesicht Fidelma an. »Aber er hat es um meinetwillen getan, um mich zu beschützen, Lady. Er hat für mich gelogen. Kannst du nicht Gnade walten lassen ... Kannst du nicht ...«
Fidelma betrachtete sie kühl, so daß sie schließlich schwieg.
»Das Gesetz kennt keine Rechtfertigung für Lügen«, erwiderte sie entschlossen. »Doch als Richter und Auslegende des Rechts haben wir auch die Tatumstände in Betracht gezogen, so ist es unsere Pflicht. Dennoch verlangt das Gesetz einen Preis für falsche Rede.«
Tomma tätschelte beruhigend Bebhails Hand.
»Ich bin bereit, meine Strafe anzunehmen, Lady.«
»Du wirst für ein Jahr und einen Tag deinen Sühnepreis verlieren. Als Pfand dafür wirst du eine Geldstrafe in Höhe deines Sühnepreises leisten.«
In der Halle herrschte eisiges Schweigen, die Anwesenden versuchten sich klarzumachen, was dieses Urteil bedeutete. Fidelma lächelte düster in die erstaunten Gesichter.
»Tomma, ich nehme an, daß du zu jenen gehörst, die kein Land besitzen, das ihnen von ihren Vorfahren vererbt wurde. Du gehörst zu den Fer Midbad.«
Langsam nickte der Gerber.
»Und das bist du schon seit vierzehn Jahren, nicht wahr?«
»So ist es.«
»Dann entspricht dein Sühnepreis gemäß dem Gesetz dem Wert einer einjährigen Kuh, das sind umgerechnet vier screpall. Kannst du diese Summe zahlen?«
Tomma mußte schlucken, so erleichtert war er auf einmal. »Das kann ich, Lady.«
»In einem Jahr wird dir dein Sühnepreis wieder zurückgegeben, vorausgesetzt, daß du nicht noch einmal gegen das Gesetz verstoßen hast.«
Unter jenen, die Lesren nicht hatten leiden können und Mitgefühl mit Bebhail empfanden, wurden leise Sympathiebekundungen laut. Die Familienangehörigen lehnten sich vor und gratulierten beiden. Niemand meinte, das Urteil sei zu streng ausgefallen. Und niemand nahm Rücksicht auf Accobran, der Ruhe verlangte. Becc blickte zu Fidelma, lachte und zuckte mit den Schultern.
»So können alle erst einmal aufatmen«, meinte Fidelma und stand auf. »In ihrer Erleichterung haben sie ganz vergessen, daß wir noch drei Morde aufklären müssen.«
Am nächsten Morgen machten Fidelma und Eadulf am Rand des Hügels halt, um den Pferden eine Pause zu gönnen. Sie blickten auf die Straße hinab, an der die Hütte des Jägers stand.
Eadulf war ein wenig verärgert darüber, daß alle seine Bemühungen, Fidelma zu einem Schluck Johanniskrauttee zu überreden, gescheitert waren. Sie hatte gemeint, er solle das Zeug weggießen, nichts könne sie dazu bringen, es zu kosten. »Pure Zeitverschwendung«, hatte sie mürrisch erklärt.
»Ich habe noch nie erlebt, daß du dich in einem Fall allein auf dein Gefühl und nicht auf logische Schlußfolgerungen aus bewiesenen Fakten verlassen hast«, meinte Eadulf jetzt verstimmt. »Allerdings sind es ja meist Dinge, die mir entgangen sind, aus denen du deine Schlußfolgerungen ziehst.«
Fidelma schüttelte sofort heftig den Kopf.
»Ich weiß auch nicht mehr als du«, erwiderte sie mit Entschiedenheit.
»Gut. Du kannst mich nicht überzeugen. Ich kenne dich zu gut. Wir wollen Menma aufsuchen und dann das Eberdickicht genauer erkunden, egal, was uns dort erwartet. Offenbar wirst du mir das Ganze erklären, wenn du es für richtig hältst.«
Bald hatten sie Menmas Blockhütte erreicht. Noch ehe sie absitzen konnten, trat eine hübsche junge Frau mit schulterlangem weizenblondem Haar aus der Tür. Sie wischte sich die Hände an einem Tuch ab und musterte nacheinander die beiden Besucher. Dann lachte sie auf einmal.
»Du mußt Lady Fidelma sein, und das ist dein Gefährte. Mein Mann hat mir gestern von euch erzählt. Wollt ihr zu ihm?«
Fidelma beugte sich über den Hals des Pferdes. »So ist es. Bist du Menmas Frau?«
»Ja. Ich heiße Suanach, Lady.«
»Ist der Zeitpunkt ungünstig?«
»Nein, ganz und gar nicht, Lady. Ich werde ihn rufen.«
Sie schritt zu einem Holzbalken beim Eingang, wo an einem Nagel ein Horn am Lederriemen hing, nahm es ab, holte ein paarmal probeweise Luft, setzte es an die Lippen und blies hinein. Dann hängte sie es wieder zurück und lauschte. Eadulf wollte schon etwas sagen, da legte sie einen Finger an den Mund. Kurz darauf hörte man die Antwort von einem anderen Horn aus dem Wald.
Suanach lächelte. »Er ist nicht weit weg. Gleich wird er hier sein. Wollt ihr absitzen und ein wenig Met trinken?«
Eadulf wollte das Angebot schon ablehnen, doch Fidelma willigte sofort ein. Da wurde ihm bewußt, daß er beinahe eine der wichtigsten Regeln des menschlichen Zusammenlebens verletzt hatte. Wenn einem jemand seine Gastfreundschaft anbot, mußte man sie annehmen, und sei es nur symbolisch.
Sie saßen in der Hütte am Tisch, der Met war eingeschenkt, da öffnete sich die Tür, und Luchoc kam als erster hereingestürzt. Er winselte und beschnüffelte sie mißtrauisch. Dann trat Menma ein und begrüßte sie.