»Ich habe eure Pferde draußen erkannt. Sitz, Luchoc! Sitz!«
»Wir wollten dich fragen, ob ...«, fing Fidelma an.
»Ob ich euch die Höhlen im Eberdickicht zeige?« Menma lächelte. »Gewiß führe ich euch hin. Wann seid ihr zum Aufbruch bereit?«
»Natürlich sofort ...«, meinte Eadulf, doch da traf ihn unter dem Tisch Fidelmas Fuß.
»Wir sind bereit, nachdem wir Suanachs ausgezeichneten Met genossen haben«, führte sie seinen Satz zu Ende. »Wir sollten mit der Höhle oben auf dem Hügel beginnen, die du erwähnt hast.«
Als sie sich für die Gastlichkeit gebührend bedankt hatten, folgten Fidelma und Eadulf dem Jäger und seinem Hund zu Pferd den bewaldeten Hügel hinauf. Menma zog es vor, zu Fuß zu gehen. Er lief so behende und ausdauernd, daß er den vor Anstrengung schnaubenden Pferden immer ein Stück voraus war. Bald bemerkte auch Fidelma, daß es ein Fehler war zu reiten. Als sie eine Lichtung erreichten, stieg sie vom Pferd. Eadulf folgte ihr mit einem kleinen Dankgebet auf den Lippen.
»Es ist vermutlich das beste, die Pferde hier anzubinden und zu Fuß weiterzugehen«, sagte sie zu Menma.
Der Jäger nickte.
»Das Gelände ist für Pferde nicht gerade geeignet«, bestätigte er. Er zeigte auf die Hügelkuppe, die unter Bäumen versteckt lag. »Dort ist das, wonach ihr sucht. Der Eingang der alten Mine befindet sich da oben.«
»Warum nennt man diesen Ort hier Eberdickicht?« wollte Eadulf wissen, als sie zu Fuß weiter bergan stiegen. Nachdenklich blickte er auf die Eichen und Erlen zu beiden Seiten des Pfades.
»Hast du nicht die Geschichte von Orc-Triath, dem König der Wildschweine, gehört?« fragte Menma lächelnd.
Eadulf verneinte.
»Der Eber gehörte einst zu den Fruchtbarkeitssymbolen der keltischen Muttergöttin Brigid, Tochter von Dagda, dem Vater der alten Götter und Göttinnen von Eireann.«
»In der alten Legende heißt es, daß der Eber ein mächtiges Wesen aus dem Jenseits war und für Raub und Zerstörung stand«, erklärte Fidelma.
»Viele Jäger sind ihm schon im Wald begegnet, haben sich aber nicht getraut, es zu erzählen«, fügte Menma auf einmal ernst hinzu.
Eadulf zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Glaubst du das wirklich?«
»Es geht dabei nicht um Glauben, sondern um Wissen, sächsischer Bruder«, erwiderte der Jäger. »Der Legende nach war hier das Gebiet, in dem Orc-Triath sein Unwesen trieb.«
»Was ist das dort oben?« fragte Fidelma und deutete auf ein paar graue Kalkfelsen zu ihrer Rechten, die unter den Bäumen wie eine merkwürdige Festung wirkten. Sie wollte nicht weiter in alten Legenden herumstöbern, sondern sich auf den Zweck ihrer Unternehmung konzentrieren.
»Die Stelle dort genau oberhalb des Steinkreises der Wildschweine? Die nannte man früher Derc Crosda.«
Neugierig betrachtete Fidelma die Kalkfelsengruppe.
»Der verbotene Ort der Dunkelheit?« übersetzte sie den Namen. »Das bedeutet wohl Höhle, schätze ich.«
»Ich muß dich warnen, denn die Gänge befinden sich wahrscheinlich in schlechtem Zustand und sind gefährlich. Das Bergwerk ist vor langer Zeit stillgelegt worden«, sagte Menma.
»Wir werden vorsichtig sein. Wir wollen uns die Höhle mal anschauen.«
Menma rief seinen Hund, und sie bahnten sich einen Weg durch das Dickicht.
»Danach hast du gesucht, Lady«, erklärte der Jäger und deutete auf den Höhleneingang.
Die Öffnung war recht groß. Man konnte leicht erkennen, daß hier einst viele Menschen ein und aus gegangen waren. Der Eingang war sogar erweitert worden; Äxte und Hämmer hatten an den Wänden ihre Spuren hinterlassen.
Drinnen konnte man im einfallenden Licht sehen, daß das Geröll am Boden bald in Sand überging.
»Das ist der Tanzplatz der Siog«, erläuterte Menma mit gedämpfter Stimme.
»Der was?« fragte Eadulf.
»Der Feen«, antwortete der Jäger. »Die Legende berichtet, daß hier die Feen tanzen. Wenn du einen Stein auf den Boden wirfst, wird er nicht lange liegen-bleiben, denn die Feen säubern den Boden, damit sie dort tanzen können.«
Eadulf rümpfte abschätzig die Nase. »Sieht so aus, als sei der ganze Hügel von Legenden umwoben.«
»Gewiß doch, sächsischer Bruder. Jeder Spalt, jede Ritze dieses Landes ist erfüllt von tausend Jahren Leben und Erfahrung. Gibt es in deinem Volk nicht auch alte Sagen?«
»Können wir von irgendwoher Fackeln auftreiben?« fragte Fidelma ungeduldig. »Ich möchte mir die Höhle näher anschauen. Wir hätten welche mitbringen sollen.«
»Ich werde mein Bestes tun, Lady. Ein paar Laternen oder eine Kerze täten es sicher auch. Ich habe nicht daran gedacht.«
Bald darauf kehrte Menma mit zwei großen Brandfackeln wieder, die er selbst zurechtgeschnitten und mit trockenem Gras umwickelt hatte.
Die Höhle erwies sich als recht groß. Vor langer Zeit hatte man hier gearbeitet; die Reste eines alten Schmiedeofens und ein zerfallener Blasebalg in einer Ecke deuteten darauf hin.
»Diese Mine ist bereits vor vielen Generationen aufgegeben worden«, erklärte Menma. »Man hat mir erzählt, daß es hier einst reiche Goldvorkommen gab.«
Fidelma blickte sich aufmerksam um. In einer Ecke ragte ein Stalagmit mit hohler Spitze vom Boden auf. An der Decke über ihr hing ein Tropfstein, von dem es in ein kleines Becken darunter tropfte. Hinter ein paar Steinblöcken entdeckte sie einen Spalt in der Höhlenwand. Fidelma wollte sofort herausfinden, ob er irgendwohin führte.
»Vorsichtig, Lady«, rief Menma besorgt. »Es gibt hier viele lose Steine.«
Fidelma erwiderte nichts. Sie quetschte sich durch den Spalt.
»Fidelma!« rief Eadulf aufgeschreckt. »Um Himmels willen, sei vorsichtig!«
»Hier geht es weiter«, erscholl ihre Stimme, und sie und die Fackel waren verschwunden. »Kommt schon.«
Eadulf und Menma, der die zweite Fackel hielt, sahen sich kurz an. Dann winkte der Jäger Eadulf zu, daß er zuerst gehen sollte. Eadulf biß die Zähne zusammen, tauchte ins Dunkel und schob sich mit angehaltenem Atem durch den schmalen Spalt. Schon befand er sich in einem anderen Raum. Er war so groß wie die Festhalle eines wohlhabenden Fürsten. Es gab hier viele außergewöhnliche Tropfsteine, Stalagmiten auf dem Boden und an den Decken Stalaktiten.
Fidelma hatte den Raum schon fast durchquert, als Menma zu ihnen stieß.
»Hier entlang!« rief sie und verschwand in einem anderen Gang.
Die beiden Männer waren gezwungen, ihr zu folgen.
Der Gang war nicht so eng wie der Spalt, und er war hoch genug, um darin aufrecht laufen zu können, doch er führte in die Tiefe. Eadulf spürte, wie es immer weiter bergab ging. Dieser Gang war offenbar von Menschenhand geschaffen, denn er war rechtek-kig und gerade, die Seitenwände waren so glatt wie der Boden.
»Ich hoffe, daß wir genug Licht haben, um den Spalt wiederzufinden, der uns zum Ausgang zurückbringt«, murmelte er besorgt.
Menma, der ihm folgte, antwortete nicht darauf, doch das Gebet, das er vor sich hin murmelte, verriet, daß auch er nicht so glücklich über Fidelmas forsches Vorauspreschen war.
Plötzlich endete der Gang in einem hohen, runden Raum, in dessen Mitte sich ein schwarzes Wasserbek-ken befand, das offensichtlich sehr tief war. Der Raum war wunderschön, Stalaktiten hingen von der Decke, Stalagmiten wuchsen an verschiedenen Stellen aus dem Boden bis zu fast sechs Metern in die Höhe. Noch atemberaubender waren die kristallinen Ablagerungen, mit denen die Stalagmiten und die Felsblöcke überzogen waren und die kleinen Trauben glichen.
»Dort drüben gibt es mehrere Gänge, die von hier fortführen«, erklärte Fidelma.
Menma hielt sie mit der Hand am Arm fest. »Verzeih mir, Lady, weiter darfst du dich jetzt nicht vorwagen. Dazu fehlt uns die richtige Ausrüstung. Die Fackeln werden nur noch kurze Zeit brennen.«