»Der alte Kapitän hat uns versichert, Menma wüßte alles über das Eberdickicht und was man dort entdeckt hat. Wenn der Kapitän die Wahrheit gesagt hat, dann könnten wir endlich Rache nehmen für unsere Niederlage am Cnoc Äine, die wir diesem Emporkömmling Colgü zu verdanken haben.«
»Wir werden uns für nichts rächen können, wenn wir nicht verschwinden, ehe die Krieger von Rath Raithlen hier sind«, entgegnete der andere.
Die beiden Männer ritten zu ihren Gefährten zurück. Fidelma versuchte zu deuten, worüber sie sich unterhalten hatten. Suanach war anscheinend am Leben und nur als Geisel mitgenommen worden. Doch worum handelte es sich bei der Entdeckung im Eberdickicht? Warum veranlaßte das die Ui Fidgente, so tief in das Territorium der Eoghanacht einzudringen? Wer war der alte Kapitän, und was wußte Menma?
Doch sie konnte jetzt nicht länger darüber nachdenken. Sie mußte so schnell wie möglich nach Rath Raithlen zurück, um Becc zu berichten, was hier geschehen war. Er mußte Krieger losschicken, die Sua-nachs Spur aufnahmen. Dann könnten Fidelma und Eadulf nach Menma suchen und mehr über das Eberdickicht in Erfahrung bringen. Sie war sich sicher, daß die Antwort in der Höhle zu finden war, die sie heute morgen untersucht hatten. Sie war heilfroh, daß sie Eadulf gebeten hatte, in die sichere Festung zurückzukehren. Sein Leben wäre den Ui Fidgente nichts wert.
Sie hörte, wie die Reiter abzogen. Sie konnte nichts tun, um die Flammen zu löschen, die Menmas und Suanachs Heim verschlangen. Die Hütte wurde zu einem einzigen lodernden Scheiterhaufen. Sie stand auf und lief durch den Wald, immer nach Osten, auf einer Achse, die ihrem Gefühl nach den Weg zur Festung kreuzen mußte. Vermutlich würde sie bald auf Beccs Reiter stoßen.
Nun brach die Dämmerung herein. Sie lief durchs Unterholz und konnte kaum noch erkennen, wo sie hintrat, mußte ständig Hindernissen ausweichen. Nach einer Weile bedauerte sie es, nicht den normalen Pfad von der Hütte zum Hauptweg eingeschlagen zu haben. Schließlich waren die Reiter in entgegengesetzter Richtung fortgeritten. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie wohl die Orientierung verloren hatte. Sie sah sich um und versuchte herauszubekommen, ob sie in die falsche Richtung lief. Doch in der hereinbrechenden Dunkelheit war das aussichtslos. Durch die hohen, sich zum Himmel hinaufreckenden Eichen und Erlen fiel auch nicht das geringste Licht.
Als sie die Hoffnung schon fast verloren hatte, entdeckte sie einen Pfad, der vielleicht von vielen Generationen von Wildschweinen getrampelt worden war und der sie nun durch das Unterholz hindurchführte. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, daß die Baumstämme auf einer Seite dunkler waren. Sie blieb stehen und tastete sie ab. Auf der dunklen Seite wuchs feuchtes Moos.
Fidelma lächelte.
Diese Seite der Bäume zeigte nach Norden. Mit einem alten Holzfällertrick konnte man nun leicht die Himmelsrichtung bestimmen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die trockene Seite eines Baumes und streckte die Arme genau im rechten Winkel zum Körper aus. Ihr linker Arm wies jetzt nach Osten, der Richtung, in die sie gehen mußte.
Fast wäre sie über einen langen, schmalen Ast gestolpert, als sie weiterging. Sie hob ihn auf und stellte fest, daß sie ihn gut zu ihrer Verteidigung gebrauchen könnte. Sogleich fühlte sie sich sicherer. Inzwischen waren an dem wolkenlosen Himmel Mond und Sterne aufgegangen, und der Weg, auf dem sie inzwischen lief, war besser zu erkennen.
Sie schätzte, daß sie in gut einer Stunde Beccs Festung erreichen würde. Sie verfiel in ein rasches Tempo.
Kaum zehn Minuten später hörte sie ein Pferd herangaloppieren. Rasch versteckte sie sich hinter einem Strauch und hob ihren Stock. Im Mondlicht konnte sie den Weg hinter sich gut einsehen und nun den schwarzen Schatten eines Pferdes ausmachen. Der Reiter hing unbeholfen am Hals des Tieres. War er von den Ui Fidgente? Hatten die ihre Flucht bemerkt und wollten sie nun abfangen, ehe sie Rath Raithlen erreichte? Ihr blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken. Ein Pferd konnte sie gut gebrauchen.
Als sich der Reiter näherte, sprang sie schreiend wie eine bean sidh - eine Frau aus dem Feenvolk - hinter dem Busch hervor. Das Pferd bäumte sich auf und stemmte seine Vorderbeine in die Luft. Der Reiter fiel hintenüber und schlug auf dem Weg auf, wo er reglos liegenblieb. Mit hocherhobenem Stock sprang Fidelma auf ihn zu.
Der Reiter stöhnte und stieß einen sächsischen Fluch aus. Fidelma ließ ihren Stock sinken und starrte auf den Liegenden.
»Nar lige Dia! Möge Gott uns beistehen!« rief sie. »Bist du es, Eadulf?«
Eadulf stöhnte erneut und schüttelte den Kopf, den er mit beiden Händen festhielt.
»Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder ich selbst sein werde«, stieß er hervor. »Ich bin ganz gewiß in zwei Hälften zersprungen.«
»Es tut mir leid. Ich dachte, du gehörst zu den Ui Fidgente«, rief Fidelma. Sie kniete sich nieder und wollte ihm aufhelfen.
Eadulf versuchte im Dunkeln etwas zu erkennen. Er sah Fidelmas Schatten, hörte ihre Stimme, und auf einmal begriff er, was hier vorging. Er mühte sich, auf die Beine zu kommen.
»Du bist nicht von ihnen verschleppt worden?« fragte er ungläubig und streckte eine Hand nach ihrer Wange aus.
Sie lächelte einen Moment, doch das konnte er ja nicht sehen.
»Wie du merkst, Eadulf«, erwiderte sie ein wenig streng, um ihre Erleichterung zu überspielen. »Sonst wäre ich ja nicht hier.«
»Accobran und Menma sind mit ein paar Männern von Rath Raithlen los geritten, um die Ui Fidgente zu verfolgen«, sagte er jetzt. »Wir dachten, daß sie dich und Suanach gefangengenommen hätten.«
»Suanach haben sie gefangengenommen«, bestätigte Fidelma voller Bedauern. »Die Ui Fidgente hoffen, auf diese Weise Menma in ihre Fänge zu kriegen.«
Eadulf war inzwischen wieder völlig zu sich gekommen, spürte aber jeden seiner Knochen.
»Menma in eine Falle locken? Wieso das?« fragte er.
»Ich weiß es nicht. Doch ich habe zwei von ihnen belauschen können. Der Zweck ihres Überfalls bestand offenbar darin, von Menma etwas Bestimmtes über das Eberdickicht herauszubekommen.«
»Sonderbar, daß sie sich deshalb so weit nach Süden vorwagen. Worum mag es ihnen gehen?«
»Da bin ich überfragt, Eadulf. Meine Sorge gilt im Augenblick Suanach. Sie hat mich im Keller ihres Hauses versteckt, während sie den Ui Fidgente entgegentrat. Nur so konnte ich entkommen.«
Eadulf wurde nun sehr ernst. »Wollen wir hoffen, daß Accobran wirklich ein so fähiger Krieger ist, wie man ihm nachsagt. Menma ist ein ausgezeichneter Fährtenleser und kann den Angreifern sicher folgen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er das auch in der Nacht schafft. Warum bist du nicht bei ihnen?«
»Accobran meinte, ich solle zur Festung zurückreiten und Becc warnen, denn es könnte sich ja um einen größeren Angriff auf die Cinel na Äeda handeln. Der Tanist sagte, sie hätten von Rath Raithlen aus Rauch aufsteigen sehen und Becc hätte deshalb seine Krieger losgeschickt. Niemand wußte vorher, daß es die Ui Fidgente waren.«
»Accobran sagte ...?«Fidelma ging ein Licht auf. »Dann warst du gar nicht in der Festung?«
»Ich war mit Menma am Nachmittag noch einmal in der Höhle, die dich so beschäftigt hat«, gestand Eadulf. »Wir waren gerade auf dem Rückweg zur Hütte, als wir das Feuer bemerkten. Als wir dort eintrafen, stießen wir auf Accobran.« »Was hast du gemacht?« fragte Fidelma völlig außer sich. »Du bist in die Höhle zurückgegangen?«
»Dir war sie doch so wichtig, daß ich dachte, ich könnte dir die Mühe ersparen. Sollte es dort irgendein Geheimnis geben, so wollte ich es herausfinden, damit du dich nicht noch einmal in Gefahr begibst.«
Schweigend verarbeitete Fidelma diese Mitteilung. »Und bist du auf etwas Besonderes gestoßen?«
»Dei gratia!« bestätigte ihr Eadulf.