»Auf keinen Fall!« rief Accobran voller Zorn.
»Fidelma«, erwiderte Becc, der dem Tanist bedeutete zu schweigen, »es ist legal, einen Dieb auf frischer Tat umzubringen, wenn er sich nicht ergeben will und mit Gewalt droht.«
»Das stimmt. Deshalb wird auch derjenige, der in Notwehr jemand anderen tötet, nicht vom Gesetz verfolgt. Jeder hat ein Recht, sich zu verteidigen. Die Schwierigkeit besteht nur darin, zu beweisen, daß jemand, der hinterrücks erstochen wurde, eine Bedrohung für das Leben des anderen darstellte, der ihn so grausam umbrachte.« Dabei sah sie kurz Accobran an, dessen Blick sich verfinsterte.
»Ich glaube«, meinte Eadulf rasch, als er die Wut in den Augen des Tanist bemerkte, »daß wir die Schuldfrage so lange offenhalten sollten, bis wir wissen, was die Ui Fidgente vorbringen werden.«
»Einverstanden.« Becc seufzte erleichtert. »Es würde uns wohl nicht schaden, wenn wir unterdessen die Festung in den Verteidigungszustand versetzen.«
»Das ist ein weiser Beschluß«, stimmte ihm Fidelma zu. »Du könntest auch versuchen herauszufinden, warum es dem Trupp gelungen ist, sich Rath Raithlen zu nähern, ohne daß Alarm geschlagen wurde. Hast du nicht gestern angeordnet, die Wachen zu verstärken?«
Becc schaute seinen Tanist an. Wieder lief der junge Mann rot an.
»Ich habe sie wieder abgezogen, sobald wir von unserer erfolgreichen Verfolgungsjagd zurück waren.«
Becc sagte dazu nichts. Sein Gesicht war wie versteinert, als er die Befehle zum Sichern der Festung gab. Seine drei Abgesandten ritten inzwischen zum Tor hinaus und den Hügel hinunter. Adag führte sie zum Birkenmoor. Bald wurde ein Lager sichtbar, auf dessen Pfosten rote Seidenbanner mit einem Wolf darauf wehten. Aufmerksame Wächter bemerkten sie, riefen sie an und ließen sie ungehindert zu einer von Bäumen geschützten Stelle neben einem Bach weiterreiten.
Dort standen mehrere Krieger. Fidelma erkannte sofort den Boten, der in der Festung gewesen war. Überrascht sah er sie, Eadulf und Adag an, die nun von den Pferden absaßen und näher traten.
Zwei gefällte Bäume am Ufer dienten als Sitze.
Fidelma ging auf einen Baumstamm zu und nahm Platz. Sie ignorierte die erstaunten Blicke der Ui Fid-gente. Eadulf und Adag taten es ihr gleich. Die sechs Krieger sahen sich verblüfft an. Einen Augenblick lang sagte niemand etwas, dann verkündete Fidelma mit kühler Stimme: »Ich bin hier, um mit Conri zu sprechen. Ich erwarte ihn.«
Ihr Hochmut und ihr gebieterischer Ton verwirrten die Männer noch mehr. Keiner wußte, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte.
Da trat aus einem Zelt, wie es die Anführer im Feld benutzten, ein Mann heraus, ein großer, muskulöser Krieger mit schwarzem Haar, grauen Augen und einer frischen Narbe auf der linken Wange. Als er Fidelma so ungezwungen auf dem Stamm sitzen sah, verfinsterte sich sein Blick. Er ging auf sie zu.
»Ich bin Conri, König der Wölfe, Kriegsfürst der Ui Fidgente«, tönte er grimmig. »Du bist ziemlich arrogant, Schwester. Du vergißt deine Manieren.«
Fidelma sah ihn gelassen an.
»Ich bin Fidelma von Cashel«, erwiderte sie kalt und unnahbar. »Ich bin hier als dalaigh und habe den Rang einer anruth. Deshalb darf ich in Gegenwart eines Königs sitzen bleiben und sogar noch vor ihm das Wort nehmen, und er muß schweigen, bis ich zu Ende gesprochen habe. Ich bin Fidelma von Cashel, Tochter von Failbe Flann, Schwester von Colgü, der zu aller Wohl das Land regiert.«
Conri riß die Augen auf und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Er blickte zu seinem Boten, und Fidelma bemerkte, daß dieser mit ausgestreckten Händen den Kopf schüttelte, als wolle er sagen, nichts von alldem gewußt zu haben.
Conris Staunen wich einer gewissen Bewunderung.
»Du hast Mut, Fidelma von Cashel. Das versichere ich dir. Mut, daß du dich mit nur zwei unbewaffneten Männern in das Lager des Kriegsfürsten der Ui Fidgente wagst, wo doch dein Bruder mein Volk vor zwei Jahren an den Hängen des Cnoc Äine niedergemetzelt hat.«
Fidelma blickte ihn ruhig an. »Vielleicht erinnerst du dich, daß die Truppen der Ui Fidgente es waren, die eine Rebellion anfingen und auf den rechtmäßigen Herrscher von Muman losmarschiert sind. Es waren bewaffnete Truppen, entschlossen zum Sieg. Sie allein waren für ihr Schicksal verantwortlich. Was meinen Mut und den meiner Gefährten betrifft, ist er denn vonnöten, wenn ich deiner persönlichen Einladung folge und unter Einhaltung der Regeln der Gastfreundschaft und der Gesetze der Brehons hier erscheine? Welche Gefahr könnte uns in deinem Lager wohl drohen?«
Diese Frage sollte ihn herausfordern.
Conri starrte sie einen Moment an, dann ging seine bisher harte Miene in ein Lächeln über. Er nahm auf dem anderen Baumstamm ihr gegenüber Platz.
»Du hast recht, Fidelma von Cashel. Dir und deinen Begleitern droht hier keine Gefahr, wenn ihr als Abgesandte kommt.«
»Das ist gut. Vielleicht erklärst du mir als erstes, was euch in dieses Land führt?«
»Aber natürlich. Obwohl auch ich gern wissen würde, wie es kommt, daß du hier bist und für die Ci-nel na Äeda sprichst?«
»Ich bin einer Einladung von Becc, dem Fürsten, gefolgt ...«
»Ich kenne Becc«, unterbrach sie der Kriegsfürst. »Was tust du in seinem Gebiet?«
»Ich bin als dalaigh gerufen worden. Es hat hier etliche grausame Morde gegeben.«
»So haben wir das gleiche Ziel, denn mich hat die Ermordung einiger meiner Männer in Beccs Gebiet gebracht.«
»Ich bezweifle sehr, daß wir das gleiche Ziel haben, Conri«, erwiderte Fidelma ruhig. »Doch berichte mir, was geschehen ist, denn ich kann nicht einfach so hinnehmen, daß die Cinel na Äeda für den Tod deiner Männer verantwortlich gemacht werden.«
»Das werden wir sehen.«
»Dein Bote hat mir gesagt, daß dein Trupp auf dem Weg zu den Wettbewerben des Herrschers der Corco Loigde ist.«
»So ist es«, stimmte ihr der Kriegsfürst zu.
»Warum hat sich die Gruppe von Männern, deren Tod du nun beklagst, vom Haupttrupp entfernt und ist in das Gebiet der Cinel na Äeda eingedrungen? Erspare mir die Geschichte deines techtaire, daß es sich nur um eine Vorhut handelte.«
Conri betrachtete sie mit schmalen Augen.
»Warum bezweifelst du seine Worte?« fragte er.
»Weil ich zufällig in der Hütte von Menma und Suanach war, als deine Männer draußen vorritten. Dieser sogenannte Spähtrupp hat die Hütte in Flammen gesteckt und Suanach als Gefangene mitgenommen.«
Der Kriegsfürst stieß einen langen Seufzer aus. »Hat man dich auch als Geisel genommen?«
»Suanach hat mich im Keller versteckt, da sie glaubte, daß ich als Schwester des Königs in besonderer Gefahr schwebte. Ich konnte fliehen. Sie nicht.«
Nun schwieg Conri und hielt seinen Kopf leicht gesenkt.
»Dir ist doch wohl klar, daß damit diese Vorhut vor dem Gesetz in ein schlechtes Licht gerät«, betonte Adag nun, der auch gern etwas hinzufügen wollte.
Conri hob den Kopf und sah den Verwalter gelassen an. »Meine Absichten und die meines Haupttrupps sind vollkommen klar. Wir wollten in das Land der Corco Loigde ziehen.«
»Deine Reiter waren an der Hütte, weil sie Menma, den Jäger, suchten«, stellte Fidelma fest. »Als sie ihn nicht antrafen, entführten sie seine Frau Suanach, damit er ihnen später in die Falle ging. Ich hörte, wie sich deine Männer darüber unterhielten.«
Conri wurde ein wenig verlegen.
»Was wollten sie von Menma?« fragte Fidelma. »Und was war es, das sie im Eberdickicht suchten?« Sie neigte sich vor, denn sie sprach so leise, daß nicht einmal Eadulf und Adag ihre Worte verstehen konnten.
Conri zuckte zusammen. »Du weißt davon?« Er klang recht kleinlaut.
»Mit welcher Intrige willst du unsere Geduld auf die Probe stellen, Conri?« Sie rückte wieder von ihm ab und sprach in normaler Lautstärke.