»Ich fürchte, du betrachtest zu vieles als bereits erwiesen«, antwortete sie ernst. »Aber wie heißt es doch: Es ist noch nicht aller Tage Abend. Sonst interessierst du dich immer dafür, wie ich eine Beweisführung vorbereite«, fuhr sie fort, als er darauf nicht einging. »Aber heute fragst du mich nicht einmal, wer die Schuldigen sind und wie ich morgen vorgehen will. Was ist los?«
Eadulf schaute sie an.
»Hast du jemals über unser Gespräch über Klein Alchü nachgedacht?« fragte er plötzlich.
Fidelmas Gesicht wurde zu einer starren Maske.
»Natürlich habe ich darüber nachgedacht«, antwortete sie mit einiger Schärfe in der Stimme.
»Und?« fragte Eadulf ebenso scharf.
»Wir müssen uns im Moment mit ganz anderen Dingen beschäftigen, würde ich annehmen«, erwiderte sie. »Sind wir erst einmal damit fertig, können wir ...«
Kopfschüttelnd erhob sich Eadulf. Unruhig lief er im Zimmer hin und her, man sah ihm an, wie erregt er war. Mit angespannter Stimme sagte er: »Jedesmal wenn ich dieses Thema anschneide, lenkst du ab. Was ist seit der Geburt unseres Kindes mit uns geschehen, Fidelma? Du bist ein völlig anderer Mensch geworden.«
Fidelma setzte schon zu einer verbalen Attacke gegen seine unpassenden Vorwürfe an, als ihr bewußt wurde, daß ein solcher Ausbruch wieder einmal ihre wahren Gefühle verbergen würde. Sie machte stets nur Ausflüchte, versuchte Zeit zu gewinnen, um die Konfrontation hinauszuschieben.
»Eadulf, du hast recht. Ich komme mir selbst wie ein anderer Mensch vor«, sagte sie leise.
Eadulf blieb stehen, ihre Worte ernüchterten ihn. Er setzte sich wieder hin. Sie wirkte auf einmal so verletzbar.
»Was habe ich getan? Liegt es an mir?« fragte er.
»Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht. Seit wir nach Cashel zurückgekehrt sind und Alchü geboren wurde, scheint sich alles verändert zu haben.«
»Inwiefern denn? Wir beide haben jetzt einen Sohn - sonst ist doch nichts geschehen. Ich weiß, daß dir die Reden derjenigen, die versuchen, die Ehelosigkeit unter Nonnen und Mönchen einzuführen, nichts ausmachen. Du hast dich schon vorher gegen ihre asketische Haltung ausgesprochen.«
»Nein, das beschäftigt mich nicht«, versicherte ihm Fidelma. »Der Glaube bietet allen Platz, jenen, die den asketischen Weg einschlagen und ihre Gefühle unterdrücken, und jenen, die eine Religion ausüben, die fest in der Realität verankert ist. Sollen die Anhänger des Zölibats in ihren Einsiedlerhöhlen leben. Wir sind hier, um in der Gesellschaft zu wirken und Teil von ihr zu sein.«
»Wenn das nicht deine Sorge ist, kann es sein, daß du dich etwa dafür schämst, daß Alchüs Vater ein Sachse ist?«
»Daß ich mich dafür schäme?« fragte sie wütend. Einen Moment glaubte Eadulf, sie würde ihn schlagen. »Wie kannst du nur meinen, ich würde mich schämen, daß . daß .« Ihr versagte die Stimme, sie begann laut zu schluchzen.
Eadulf stand nun hilflos neben ihr. »Ich wollte dich nicht kränken, doch ich kann es mir einfach nicht erklären. Dich bedrückt etwas. Du verhältst dich anders. Wie soll ich das verstehen? Was ist schiefgelaufen mit uns?«
Fidelma senkte eine Weile den Kopf. Dann holte sie tief Luft und versuchte die Fassung zurückzugewinnen.
»Kann ich eine Übereinkunft mit dir treffen, Eadulf?« Ihre Stimme klang nun kontrolliert und sehr ruhig.
Eadulf betrachtete sie ein wenig mißtrauisch.
»Was meinst du?« fragte er.
»Eine Übereinkunft, die mir gestattet, mich auf den Fall zu konzentrieren, der morgen auf die eine oder andere Weise abgeschlossen wird. Danach werden wir unverzüglich nach Cashel zurückkehren. Ich verspreche dir, daß wir dort über all die Probleme reden und eine Lösung finden werden.«
Eadulf fühlte sich irgendwie überrumpelt. »Es wäre besser, wenn ich irgendeinen Anhaltspunkt hätte, wofür wir eine Lösung finden müssen.«
Fidelma blickte ihn sorgenvoll an. »Wenn ich das genau wüßte, brauchten wir nicht zu reden, Eadulf. Ist das also abgemacht?«
Eadulf schwieg. Dann sagte er: »Seit Alchüs Geburt sind mir Veränderungen an dir aufgefallen. Ich mußte schon die ganzen letzten Monate damit leben. Da kommt es auf einen Tag mehr wohl nicht an, denke ich. Na gut. Reden wir miteinander, wenn dieser Fall abgeschlossen ist.«
Fidelma legte ihre Hand auf Eadulfs Arm.
»Ich danke dir«, sagte sie einfach. »Ich kann mich immer auf dich verlassen. Auch wenn dir das vielleicht nicht bewußt ist, das weiß ich sehr zu schätzen.« Es folgte eine unangenehme Pause, schließlich lächelte Fidelma ein wenig gezwungen. »Ehe wir uns schlafen legen, möchte ich noch einmal durchgehen, was ich morgen vortragen werde. Du kannst dann - wie immer - feststellen, ob ich alles richtig bedacht habe.«
»Womit wirst du anfangen?« fragte Eadulf zögernd und versuchte in seine Stimme ein wenig Begeisterung zu legen.
Fidelma lehnte sich zurück.
»Ich werde mit der Goldmine anfangen«, sagte sie nachdenklich.
»Mit der Goldmine? Wer ist denn dein Hauptverdächtiger für die Morde an den Mädchen?«
Als sie ihm den Namen nannte, holte Eadulf erstaunt Luft.
»Ich hoffe, daß du das auch beweisen kannst«, flüsterte er zweifelnd. »Falls dir das nicht gelingt, könnte es für uns morgen ziemlich schlecht ausgehen.«
Fidelma erklärte ihm langsam, wie sie am morgigen Gerichtstag vorgehen wolle.
Kapitel 18
Die Halle von Becc, dem Fürsten der Cinel na Äeda, war so voll, daß die Honoratioren gerade noch Platz fanden. Es hatten sich so viele zu der Beweisführung der berühmten dalaigh aus Cashel eingefunden, daß Beccs Wachmänner die Menge an der Tür zurückhalten mußten. Becc thronte auf seinem Amtssessel, der, wie bei solchen Anlässen üblich, auf einem hölzernen Podest am Ende der Halle stand. Fidelma saß zu seiner Rechten ebenfalls auf dem Podest. Hinter ihr befand sich Eadulfs Stuhl. Accobran, der Tanist, stand links hinter dem Fürsten. Links neben dem Fürsten saß Abt Brogan als höchster Kirchenmann der Cinel na Äeda, neben ihm sein Verwalter, Bruder Solam.
Ihnen gegenüber hatte in der ersten Reihe eine kleine Gruppe von niederen Stammesfürsten und Mönchen Platz genommen. Auf Fidelmas Bitten hin saßen auch die drei Aksumiter dort. Hinter ihnen erblickte man den großen, dunkelgesichtigen Kriegsfürsten der Ui Fidgente, Conri den Wolfskönig, und zwei seiner Krieger. Sie waren am Vormittag mit der Parlamentärflagge in die Festung eingeritten, wußten sie doch, daß sie unter Fidelmas Schutz standen und nicht um Leib und Leben fürchten mußten. Fidelma hatte Adag befohlen, dafür zu sorgen, daß Accobran und seine Krieger auf Abstand gehalten wurden. Dennoch betrachtete jeder die Ui Fidgente mit mißtrauischen, drohenden Blicken, und sie wirkten etwas verunsichert.
Als Fidelma sich umschaute, stellte sie fest, daß alle, die sie dazu aufgefordert hatte, auch wirklich anwesend waren. Sogar Liag war erschienen, nachdem Menma ihn dazu überredet hatte. Menma und Sua-nach saßen neben ihm. Mit mürrischer Miene wie immer war auch Gobnuid anwesend. Er hatte sich neben Seachlann, dem Müller, niedergelassen. Seach-lanns Bruder Brocc war aus seiner Zelle geholt worden und stand nun, von zwei Kriegern bewacht, seitlich an einer Wand. Auch Goll und seine Familie waren gekommen. Tomma und Creoda, die beiden Gerbergehilfen, sah man mit dem Koch Sirin in einer Ek-ke. Ganz Rath Raithlen hatte sich auf den Weg gemacht, um an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen.
Nun trat Adag, der Verwalter, nach vorn und bat um Aufmerksamkeit und Ruhe, was sich eigentlich erübrigte. Er schaute zu seinem Fürsten, der nun Fidelma zunickte. Sie erhob sich und ließ ihre Blicke nachdenklich über die Versammelten schweifen. Dann begann sie langsam zu sprechen. Bedächtig wählte sie ihre Worte.