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Der alte Privatgelehrte hatte keinerlei Überraschung über Rampoles Bekanntschaft mit der Schwester des unbekannten Starberth gezeigt, wofür der Amerikaner sehr dankbar war. Rampole enthielt sich seinerseits jeglicher Fragen über die seltsamen Bemerkungen, die er an diesem Abend vernommen hatte. Er lehnte sich, vom Wein angenehm benebelt, zurück und lauschte dem Geplauder seines Gastgebers. Obwohl er selbst es mit der Getränkefolge nicht genau zu nehmen pflegte, war er dennoch nicht wenig bestürzt von der Art und Weise, wie Dr. Fell seinem Wein ein Starkbier nachschüttete und beidem gegen Ende des Mahles noch ein großes Helles folgen ließ. Trotzdem hielt er tapfer mit. »Was dieses Getränk angeht, Sir«, meinte der Doktor, und seine mächtige Stimme dröhnte durch den Wagen, »so vernehmen Sie, was das Alvislied dazu zu sagen hat: >Bier bei den Menschen, Heiltrank bei den Alben, Rauschtrank im Riesenland<. Hihi!«

Er sprach mit rotglühendem Gesicht, während er sich kichernd auf seinem Sitz hin und her wälzte und seine Krawatte mit Zigarrenasche bestreute. Erst das diskrete Hüsteln der Kellner, die sich in der Nähe ihres Tisches zu schaffen machten, konnte ihn zum Aufbruch bewegen. Knurrend humpelte er, von Rampole gefolgt, auf seinen zwei Stöcken hinaus. Kurz darauf fanden sie sich auf zwei gegenüberliegenden Eckplätzen eines leeren Abteils wieder. Dieser Ort schien noch düsterer zu sein als die Landschaft draußen, so gespenstisch lag er im Dämmerlicht. Massig in seiner Ecke thronend, wirkte Dr. Fell vor den verblichenen roten Polstern und den kaum zu erkennenden Bildern über den Sitzen wie die Gestalt eines Trolls. Er war in Schweigen versunken, auch er schien die Unwirklichkeit der Atmosphäre zu spüren. Ein frischer Wind kam von Norden, und der Mond war zu sehen. Neben dem eiligen Rattern der Räder wirkten die Berge sehr müde, festverwurzelt und alt, die Bäume wie Trauerbouquets. Schließlich ertrug es Rampole nicht länger und begann zu reden. Der Zug hielt gerade im Bahnhof eines Dorfes. Bis auf einen langen, ersterbenden Seufzer der Lok herrschte Stille.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erklären, Sir«, sagte der Amerikaner, »was Mr. Payne mit dem ganzen Gerede von >einem Stündchen im Hexenwinkel< und... und all dem meinte?«

Dr. Fell schreckte aus seiner Träumerei auf und wirkte verwirrt. Er lehnte sich vor, und der Mond spiegelte sich in seinen Augengläsern. In der Stille hörten sie die heiseren Atemzüge der Lokomotive und das dünne Summen der Insekten. Ein Zittern ging durch den Zug, eine Laterne schaukelte und blinkte.

»Äh - Was? Lieber Gott, Junge! Ich dachte, Sie kennen Dorothy Starberth. Ich wollte keine Fragen stellen...«

Offenbar die Schwester, also war Vorsicht geboten. Rampole sagte:

»Ich habe sie erst heute kennengelernt. Ich weiß überhaupt nichts.«

»Dann haben Sie auch noch nie vom Gefängnis von Chatterham gehört?«

»Niemals.«

Der Doktor schnalzte mit der Zunge. »Dann haben Sie ja richtig was aus Payne herausgekriegt. Er hielt Sie für einen alten Freund... Chatterham hat heute kein Gefängnis mehr, wissen Sie. Es wird seit 1837 nicht mehr benutzt und verfällt so langsam.«

Ein Gepäckwagen holperte vorbei. Ein kurzes Aufschimmern in der Dunkelheit und Rampole bemerkte einen sonderbaren Ausdruck im fülligen Gesicht des Doktors.

»Wollen Sie wissen, warum man es geschlossen hat?« fragte er.

»Natürlich wegen der Cholera. Die Cholera - und etwas anderes. Aber man sagte, das andere sei schlimmer gewesen.«

Rampole holte eine Zigarette hervor und steckte sie an. Er konnte in diesem Moment sein Gefühl nicht sicher bestimmen, doch es war eindeutig da, beklemmend. Später dachte er immer: als ob ihm etwas die Kehle zugeschnürt hätte. Er sog im Dunkeln einen tiefen Zug der kühlen, feuchten Luft ein.

»Gefängnisse«, fuhr der Doktor fort, » besonders Gefängnisse zu jener Zeit, waren höllische Orte. Unseres wurde außerdem im Hexenwinkel erbaut.«

»Im Hexenwinkel?«

»Dort pflegte man früher die Hexen zu hängen. Und natürlich gewöhnliche Übeltäter. Hm.« Der Doktor räusperte sich mit einem Rasseln. »Ich erwähne die Hexen, weil sie den tiefsten Eindruck auf das allgemeine Bewußtsein gemacht haben... Lincolnshire ist das Land der Moore und Sümpfe, wissen Sie. Die alten Briten nannten Lincoln Llyn-dune, die Stadt der Moore; die Römer machten daraus Lindum Colonia. Chatterham ist zwar ein Stück weit von Lincoln entfernt, und das heutige Lincoln ist recht modern. Wir aber nicht. Wir haben fetten Boden, Marschland, Sumpflöcher, Wasservögel und diese sanfte, schwere Luft, in der die Menschen nach Sonnenuntergang Erscheinungen sehen.«

Der Zug rumpelte wieder hinaus. Rampole zwang sich zu einem kleinen Lachen. Im Speisewagen hatte dieser saufende, glucksende, fettleibige Mensch noch die reine Lebensfreude ausgestrahlt. Jetzt wirkte er bedrückt und ein wenig unheimlich.

»Erscheinungen, Sir?« wiederholte er.

»Man baute das Gefängnis«, fuhr Dr. Fell fort, »rund um einen Galgenhügel... Zwei Generationen der Starberth-Familie waren dort Gouverneure, in Ihrem Land drüben würde man wohl Gefängnisdirektoren dazu sagen. Es ist Tradition, daß die Star-berths sich das Genick brechen. Was ja keine besonders erfreulichen Aussichten sind.«

Fell riß ein Streichholz für seine Zigarre an, und Rampole sah, daß er lächelte.

»Ich versuche durchaus nicht, Sie mit Gespenstergeschichten zu erschrecken«, fuhr er fort, nachdem er eine Weile geräuschvoll an seiner Zigarre gesogen hatte. »Ich will Sie nur vorbereiten. Wir kennen hier nicht Ihre amerikanische Leichtlebigkeit. Bei uns liegt etwas in der Luft, die ganze Gegend steckt voller Aberglauben. Lachen Sie also nicht, wenn Sie von bösen Irrlichtern hören oder vom Gnom der Kathedrale zu Lincoln. Lachen Sie vor allem nicht -und das möchte ich Ihnen besonders ans Herz legen - über irgend etwas, das im Zusammenhang mit dem Gefängnis steht.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann meinte Rampole: »Ich hatte nicht vor, darüber zu lachen, Sir. Ich wollte schon immer für mein Leben gern ein Haus sehen, in dem es spukt. Natürlich glaube ich nicht an so was, doch das tut meinem Interesse keinen Abbruch. Wie geht denn nun die Geschichte mit dem Gefängnis?«

Der Doktor murmelte nur: »Etwas zu viel Phantasie« und starrte auf die Asche seiner Zigarre. »Das stammt von Bob Melson. Morgen sollen Sie die ganze Geschichte erfahren. Ich habe Abschriften der Papiere aufbewahrt. Der junge Starberth muß sein Stündchen im Gouverneurszimmer verbringen, den Tresor offen und nachsehen, was drin ist. Seit fast zweihundert Jahren, müssen Sie wissen, gehört das Land, auf dem das Gefängnis von Chatterham errichtet wurde, den Starberths. Sie besitzen es bis heute; die Gemeinde hat es niemals übernommen. Es wird in Form eines >Majorats<, wie die Juristen sagen, vom ältesten Sohn der Familie verwaltet und kann nicht verkauft werden. Am Abend seines fünfundzwanzigsten Geburtstages muß der älteste Starberth hinauf zum Gefängnis gehen, den Safe im Gouverneurszimmer öffnen und sein Glück versuchen... «

»Wozu, Sir?«

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß, was der Safe enthält. Der Erbe selbst darf nichts darüber sagen, bis er die Schlüssel wiederum seinem eigenen Sohn aushändigt.«

Rampole beugte sich vor. Seine Phantasie entwarf eine graue Ruine, eine eiserne Tür und einen Mann mit Lampe in der Hand, der einen rostigen Schlüssel umdreht. Er sagte: »Du lieber Gott! Das klingt ja wie - «, fand aber nicht die richtigen Worte und lächelte unsicher.

»Das ist England. Na und?«

»Ich mußte nur daran denken, Sir, daß man sich in Amerika bei so einer Gelegenheit vor Reportern, Filmkameras und riesigen Menschenmengen nicht retten könnte.«

Er wußte sofort, daß er etwas Falsches gesagt hatte. Immer wieder stellte er fest: Mit diesen Engländern war es, als ob man einem guten Freund, den man zu kennen glaubte, die Hand schüttelt, um dann festzustellen, daß sich die Hand in einen Nebelfetzen verwandelt hatte. Es gab Bereiche, in denen ihre Anschauungen niemals übereinstimmten, und keine Sprachverwandtschaft konnte diese Kluft überbrücken. Rampole sah, wie ihn Dr. Fell hinter seiner Brille scharf anblickte und dann, zu seiner Erleichterung, zu lachen begann.