Fidelma saß im Heck des kleinen Bootes und hielt die Laterne hoch, während Cass sich in die Riemen legte. Über das dunkle, rauschende Wasser der Bucht bewegte sich das Boot auf den großen Schatten und die funkelnden Lichter des Kriegsschiffs aus Laigin zu.
Beim Näherkommen sah Fidelma, daß mehrere Laternen das Deck des schlanken Schiffes erhellten. Männer bewegten sich darauf hin und her.
Sie waren nur noch wenige Meter vom Schiff entfernt, als sie angerufen wurden.
»Antworte«, murmelte Fidelma, als Cass an den Riemen zögerte.
»Schiff aus Laigin ahoi!« rief der Krieger. »Ein dalaigh des Gerichtshofs der Brehons will an Bord kommen.«
Mehrere Augenblicke herrschte Schweigen, dann antwortete dieselbe Stimme, die sie angerufen hatte.
»Kommt an Bord und seid willkommen.«
Cass steuerte das Boot längsseit unter eine Strickleiter, die von der Reling herabhing. Ihm wurde ein Tau zugeworfen, mit dem er das Boot festmachte, während Fidelma behende die Leiter emporkletterte und sich über die Reling schwang.
Auf dem Deck sah sie sich einem Dutzend verwegen aussehender Männer gegenüber, die sie verblüfft anstarrten.
Sie hörte, wie Cass hinter ihr hinaufstieg. Ein Mann, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, kam mit dem wiegenden Gang eines Seemanns auf sie zu und schaute von Fidelma zu Cass. Sein Blick blieb schließlich an Cass haften.
»Was willst du, dalaigh?« fragte er unfreundlich.
»Ich bin es, die du anreden mußt«, wies Fidelma ihn zurecht. »Ich bin Schwester Fidelma von Kildare, dalaigh am Gerichtshof der Brehons.«
Der Mann wandte sich mit einem Erstaunen zu ihr, das er rasch zu überspielen wußte.
»Von Kildare, so? Vertrittst du Laigin?«
Fidelma ärgerte sich über den verwirrenden Umstand, daß ihr Mutterkloster Kildare tatsächlich im Königreich Laigin stand.
»Nein. Ich gehöre zwar zur Gemeinschaft von Kil-dare, aber in dieser Angelegenheit vertrete ich das Königreich Muman.«
»Schwester, ich möchte nicht ungastlich erscheinen, aber dies ist ein Kriegsschiff des Königs von Laigin und steht unter seinem Befehl. Ich meine, daß du hier nichts zu sagen hast«, stellte der Seemann hämisch fest.
»Dann darf ich dich an das Seerecht erinnern«, erwiderte Fidelma langsam mit sorgfältiger Betonung. Sie hätte sich zu gern besser darin ausgekannt, verließ sich aber darauf, daß der Seemann es noch weniger kannte als sie. »Erstens bin ich eine dalaigh und untersuche einen Mordfall. Zweitens ist dein Schiff zwar ein Schiff aus Laigin, es ankert aber in einer Bucht von Muman. Es hat weder um die Erlaubnis noch die Gastfreundschaft von Muman nachgesucht.«
»Da irrst du dich, Schwester.« Der Triumph in der Stimme des Seemanns war unverhohlen. »Wir ankern hier mit Erlaubnis von Salbach, dem Fürsten der Cor-co Loigde.«
Fidelma war froh, daß das Licht der Laternen ihr nicht voll ins Gesicht fiel. Sie schluckte vor Verblüffung. Stimmte es, daß Salbach dem Schiff aus Laigin die Erlaubnis erteilt hatte, die Abtei von Ros Ailithir einzuschüchtern? Was hatte das zu bedeuten? Das würde sie bestimmt nicht erfahren, wenn sie gezwungen wäre, sich wie ein geprügelter Hund mit dem Schwanz zwischen den Beinen fortzuschleichen. Ein Bluff war einen Versuch wert. Was hatte der Brehon Morann einmal gesagt? »Ohne ein gewisses Maß an Täuschung läßt sich kein großes Unternehmen durchführen.«
»Der Fürst der Corco Loigde mag dir die Erlaubnis erteilt haben, aber diese Erlaubnis ist nicht rechtmäßig ohne die Zustimmung des Königs in Cashel.«
»Cashel ist viele Meilen weit weg, Schwester«, spottete der Seemann. »Was der König von Cashel nicht weiß, darüber kann er nicht entscheiden.«
»Aber ich bin hier. Ich bin die Schwester von Colgü, dem König von Cashel. Und ich kann im Namen meines Bruders sprechen.«
Es herrschte Schweigen, während der Seemann das verdaute. Sie hörte, wie er schwer ausatmete.
»Nun gut, Lady«, antwortete er mit etwas mehr Respekt in der Stimme. »Was suchst du hier?«
»Ich will den Kapitän dieses Schiffes unter vier Augen sprechen.«
»Ich bin der Kapitän«, antwortete der Mann. »Komm nach achtern in meine Kajüte.«
Fidelma sah Cass an.
»Warte hier auf mich, Cass. Es wird nicht lange dauern.«
Cass schien davon nicht gerade begeistert zu sein.
Der Seemann führte sie zum Heck des Schiffes und in eine Kajüte unter Deck. Sie war klein und eng und roch stark nach einem beengt lebenden Mann, Körpergeruch vermischte sich mit dem Gestank der Öllampen und anderen Gerüchen, die sie nicht identifizieren konnte. Einen Moment bedauerte sie, daß sie nicht an der frischen Luft auf Deck mit dem Kapitän sprach, aber sie wollte den neugierigen Ohren der Matrosen und Krieger entgehen.
»Lady.« Der Kapitän deutete auf den einzigen Stuhl in der engen Kajüte und warf sich auf ein Ende seiner Koje.
Fidelma ließ sich vorsichtig auf dem schmalen Holzstuhl nieder.
»Du hast einen Vorteil vor mir, Kapitän«, begann Fidelma, »Du kennst meinen Namen, aber ich weiß deinen nicht.«
Der Seemann grinste.
»Mugron. Ein passender Name für einen Seemann.«
Fidelma mußte ebenfalls lächeln. Der Name bedeutete »Seehundjunge«. Dann kam sie zu dem Grund ihres Besuchs zurück.
»Also, Mugron, zuerst möchte ich wissen, warum du hier in der Bucht von Ros Ailithir bist.«
»Ich bin hier auf Befehl meines Königs Fianamail von Laigin«, antwortete Mugron.
»Das erklärt noch nichts. Bringst du Frieden oder Krieg?«
»Ich bin gekommen, um Abt Brocc von Ros Ai-lithir die Botschaft meines Königs zu übermitteln, daß er ihn für den Tod seines Vetters, des Ehrwürdigen Dacan, verantwortlich macht.«
»Die Botschaft hast du ausgerichtet. Was suchst du hier noch?«
»Ich soll hier warten, um sicherzustellen, daß Brocc zu gegebener Zeit die Verantwortung übernimmt. Mein König wünscht nicht, daß er aus Ros Ailithir verschwindet, bevor die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara zusammentritt. Der Brehon meines Königs hat uns erklärt, daß dies nach dem Pfändungsrecht zulässig ist. Wie ich schon sagte, habe ich die Erlaubnis Salbachs, hier zu ankern.«
Fidelma erinnerte sich an ein Gesetz, das sie schon halb vergessen hatte, und erkannte, daß Mugrons Schiff vom Standpunkt dieses Gesetzes aus legal hier vor Anker lag. Juristisch gesehen war das Schiff vor der Abtei, um Brocc zu zwingen, seine Verantwortung für den Tod Dacans zuzugeben, auch wenn er die Tat nicht selbst begangen hatte; und bis der Gegenbeweis angetreten wurde, durfte das Schiff hier liegen. Das Gesetz ging sogar noch weiter und berechtigte Abt Noe als den nächsten Verwandten Dacans, ein rituelles Fasten gegen Brocc durchzuführen, bis er seine Schuld anerkannte.
»Du hast Brocc die Botschaft überbracht, als du hier ankamst. War das eine offizielle apad - die Ankündigung dieses Verfahrens?«
»Das war es«, bestätigte Mugron. »Es wurde entsprechend den Anweisungen des Brehons meines Königs vollzogen.«
Fidelma preßte ärgerlich die Lippen zusammen.
Sie hätte die Situation schon früher erkennen müssen, als sie das Bündel verschlungener Weiden- und Espenzweige sah, das am Tor der Abtei hing. Dies war das Zeichen eines Pfändungsverfahrens gegen einen Klostervorsteher. Es war lange her, daß sie auf den als Di Chetharshlicht Athgabala bekannten Gesetzestext zurückgreifen mußte, der das komplizierte Vorgehen bei Pfändungen regelte. Sie erinnerte sich nur noch, daß man bei diesem Gesetz drei Fehler machen durfte, ohne eine Geldstrafe zahlen zu müssen, weil es so kompliziert war. Sie gestand sich als ihren ersten Fehler zu, daß sie das Pfändungsrecht vergessen hatte.
Das wettergebräunte Gesicht des Seemanns verzog sich spöttisch, während er ihr Mienenspiel beobachtete.