Mugron zögerte.
»Na, ich denke, ein Landgang ist besser, als hier auf dem Pott sitzen und von den Wellen geschaukelt werden. Ich verstehe allerdings nicht, was der Tod dieser unglückseligen jungen Frau mit dem Mord an Dacan zu tun hat? Es gibt für dich doch sicher Wichtigeres zu tun?«
Er sah Fidelmas Gesicht und hob begütigend die Hand.
»Ja, ja, Schwester Fidelma. Ich komme mit, aber du als dalaigh mußt dafür sorgen, daß ich von den Anhängern Abt Broccs nicht beleidigt werde.«
»Das garantiere ich dir«, versicherte ihm Fidelma.
»Dann ist es abgemacht.«
»Noch eins«, sagte Fidelma und hielt Mugron zurück, als er aufstehen wollte.
»Nämlich?«
»Du sagtest, du wurdest Schwester Eisten vorgestellt. Warum geschah das?«
»Während wir im Bankettsaal auf Salbachs Erscheinen warteten, sah ich sie. Das Kreuz, das sie trug, interessierte mich, weil es so anders war als die Kruzifixe, die hierzulande bei Mönchen und Nonnen üblich sind. In Laigin könnte ich dafür einen guten Preis erzielen.«
»Das stimmt«, bestätigte Fidelma. »Das Kruzifix wurde in Bethlehem gekauft, denn Schwester Eisten machte eine dreijährige Pilgerfahrt zum heiligen Geburtsort Christi.«
»Genau das hat sie mir damals erzählt, Schwester«, pflichtete ihr der Kapitän bei. »Es hat sich wohl fast jeder danach erkundigt. Ich hatte Schwester Eistens Begleiterin gebeten, mich vorzustellen, damit sie wüßte, daß sie mir trauen konnte. Aber leider hing sie zu sehr an dem Kreuz, als daß sie es verkauft hätte.«
»Wer stellte dich vor?« fragte Fidelma. »Du hast angedeutet, daß du die Begleiterin von Schwester Eisten kanntest.«
Mugron war ohne Arg.
»Natürlich kannte ich sie. Ich war ihr begegnet, als ich im Dienst des alten Königs Fearna besuchte. Und sie erkannte mich auch gleich wieder. Ich war erstaunt, eine Dame aus Laigin in der Burg des Fürsten der Cor-co Loigde anzutreffen, besonders, da es sich um die frühere Gattin Dacans handelte.«
Das war nun wirklich eine gewaltige Überraschung.
»Die frühere Gattin des Ehrwürdigen Dacan?« wiederholte Fidelma langsam, sie traute ihren Ohren kaum. »Bist du dir da ganz sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher. Ich wußte, daß Da-can verheiratet gewesen war. Es ist vierzehn Jahre her, aber ich erinnere mich an sie. Sie war damals ein sehr schönes junges Mädchen. Sie blieben nicht lange zusammen, dann ließ sie sich von ihm scheiden, um ihre geistliche Laufbahn zu verfolgen. Ich dachte, sie wäre nach Cealla gegangen.«
»Und wer ist diese frühere Gattin von Dacan?« fragte Fidelma ruhig. »Weißt du ihren Namen?«
»Natürlich. Sie heißt Grella.«
Kapitel 11
Nachdem Mugron die Leiche Schwester Eistens ordnungsgemäß identifiziert hatte als die derselben Nonne, die er auf Salbachs Burg gesehen hatte, war er auf sein Schiff zurückgekehrt. Fidelma und Cass machten sich auf den Weg zur Abteiküche, um ihren inzwischen sehr großen Hunger zu stillen. Fidelma mußte drängen und ihre Stellung und ihre Verwandtschaft mit dem Abt betonen, um die übellaunige Schwester in der Küche dazu zu bewegen, sie mit einem Krug Ale, Gerstenbrot und kalten Scheiben von einer Rindslende zu versorgen. Auch eine Schale Äpfel fand sich noch, und sie aßen gierig und schweigend an einem kleinen Tisch in einer Ecke des nunmehr leeren Speisesaals.
Fidelma hatte nicht damit gerechnet, daß Mugron keine Übereinstimmung zwischen der Leiche und jener Schwester Eisten auf Salbachs Burg feststellen würde, aber sie wollte ganz sicher sein, daß sich Eisten auf Salbachs Burg aufgehalten hatte. Sie stand nun vor einem weiteren Rätsel, das einen gewissen Zusammenhang mit dem Mord an Dacan zu haben schien.
Und warum hatte Grella ihr verschwiegen, daß sie mit Dacan verheiratet gewesen war? Grella versuchte offenbar, etwas zu verbergen. War ihr Verhältnis zu Da-can Grund für den Mord?
Aber es gab noch mehr Rätsel. Was hatten Grella und Eisten gemeinsam auf Salbachs Burg gemacht? Und warum hatte Eisten versucht, eine Überfahrt für zwei Personen auf einem Schiff nach Gallien zu organisieren? Mit wem hatte sie nach Gallien reisen wollen? Mit Grella? Und wer hatte Eisten gefoltert und getötet?
Fidelma grübelte und grübelte.
Plötzlich merkte sie, daß Cass sie mit einem spöttischen Lächeln betrachtete.
»Was tun wir als nächstes, Schwester?« fragte er, setzte seinen leeren Alekrug ab und lehnte sich zurück, offensichtlich zufrieden mit seiner Mahlzeit.
»Als nächstes?«
»Dein Verstand hat gearbeitet wie die Wasseruhr im Glockenturm. Ich konnte es geradezu hören.«
Fidelma blickte ihn verlegen an.
»Als nächstes suchen wir Schwester Grella auf. Wir müssen feststellen, warum sie gelogen oder vielmehr mir nicht die volle Wahrheit gesagt hat.«
Sie erhob sich, und Cass folgte ihrem Beispiel.
»Ich komme mit«, sagte er. »Nach dem, was du mir berichtet hast, ist es gut möglich, daß sie eine Mörderin ist. Wir sollten kein Risiko eingehen.«
Diesmal machte Fidelma keine Einwände.
Sie suchten sich ihren Weg durch die düsteren Abteigebäude zu der dunklen, verlassenen Bibliothek. Anscheinend arbeitete niemand mehr in der kalten, lichtlosen Halle. Die Plätze waren leer, die Bücher ordentlich in ihren Taschen verstaut, und es brannten keine Kerzen.
Fidelma ging voran in das kleine Zimmer, in das Schwester Grella sie zu ihrem Gespräch geführt und in dem Dacan gearbeitet hatte. Sie stellte überrascht fest, daß ein Feuer im Kamin in der Ecke glimmte. Während Cass sich niederbeugte, um eine Kerze anzuzünden, trat Fidelma rasch zum Kamin. Sie bückte sich plötzlich und hob etwas auf.
»Was hältst du davon?« fragte sie.
Cass zuckte die Achseln, als er das kurze Stück eines angekohlten Zweiges sah, das sie ihm hinhielt.
»Ein Stock. Womit sonst macht man ein Feuer an?«
Verärgert schüttelte Fidelma den Kopf.
»Gewöhnlich macht man nicht mit solchen Stöcken Feuer. Sieh ihn dir genauer an.«
Cass tat es und erkannte, daß es ein Stück von einem Espenstab war, in den Ogham-Zeichen eingeritzt waren.
»Was bedeutet das?« fragte er.
»Es ergibt nicht viel Sinn. Dort steht: >Die Entscheidung des Ehrenwerten bestimmt die Pflegschaft meiner Kinder.< Das ist alles.«
Fidelma tat das gerettete Stück Ogham-Stab in ihr marsupium, ihren Tragebeutel, und betrachtete interessiert die Reste des Feuers.
»Jemand hat offenbar beschlossen, ein ganzes Buch zu verbrennen.« Sie sah in den Behältnissen nach, die Grella am Vormittag geprüft hatte. Ihr Verdacht erwies sich als richtig. »Dies waren die Ogham-Stäbe, die Dacan studierte. Einen Stab davon habe ich in seinem Zimmer gefunden. Ich habe ihn Schwester Grella gezeigt, und sie sagte, es handele sich um ein Gedicht.«
»Meinst du nicht, daß es ein Teil eines Testaments sein könnte?«
»Warum sollte es jemand für so wichtig halten, daß er es vernichten wollte?« fragte sie, erwartete aber keine Antwort von Cass.
Sie gingen zurück durch den leeren Saal der Bibliothek. Ein vorbeikommender Mönch sah sie neugierig an.
»Suchst du Schwester Grella?« fragte er höflich.
Fidelma bejahte es.
»Wenn sie nicht in der Tech Screptra ist, dann sicher in ihrem Zimmer.«
»Wo finden wir das?« fragte Cass.
Der Mönch beschrieb es ihnen.
Das Zimmer der Bibliothekarin von Ros Ailithir war jedoch verlassen. Fidelma klopfte vorsichtig zweimal an. Sie versicherte sich, daß der Gang leer war, bevor sie die Klinke hinunterdrückte. Wie erwartet, war die Tür nicht verschlossen.
»Rasch hinein, Cass«, befahl sie ihm.
Er folgte ihr etwas widerwillig, und als er eingetreten war, schloß Fidelma die Tür und suchte tastend nach einer Kerze.