Und so amüsierte sich Michael Conners, der sich gerade auf den Weg zum Karatetraining machte, zwei Stunden später über seinen zerzaust aussehenden Kollegen, der eilig aus einem Taxi sprang und sich mit Hilfe des Fahrers einen Berg Päckchen und Tüten auflud. Gehindert durch die verletzte Hand, verlor John auf dem Weg zum Eingang unvermeidlich einige der Päckchen.
Conners sprang ihm bei. „Hallo, John. Komm, ich helfe dir beim Tragen. Wenn ich mich zum Training ein paar Minuten verspäte, macht das nichts.“ John bedankte sich erleichtert und sie eilten in der Dämmerung über das Tower Green.
„Ich möchte mich keinesfalls wieder für die Abendfütterung der Raben verspäten.“ Conners warf einen betonten Blick auf Johns linke Hand und grinste.
„Beim Mittagessen habe ich schon unterschiedliche Geschichten gehört, was dir gestern passiert ist. Abbott sagte, einer unserer Raben hätte dir einen Finger abgehackt. Denham meinte, du hättest dich beim Herrichten des Futters selbst geschnitten. Die Version, die Raben hätten dir aufgelauert und sich alle vereint auf dich gestürzt, konnte keiner von uns glauben.“ John musste wider Willen lachen.
„Keine Sorge, es sind noch alle Finger dran. Ich erzähle dir die Geschichte mal in einer ruhigen Minute, Michael. Aber jetzt muss ich wirklich los.“
„Oh, zur Abwechslung einmal pünktlich“, begrüßte Maggie John, als sie ihm die imposante Eingangstür ihres Hauses in Belgravia öffnete. Sie umarmten sich und er überreichte ihr die Naschereien, die er heute gekauft hatte. Ihre Augen leuchteten auf.
„Mmh, dunkle Schokolade und Macadamia-Nüsse, meine Lieblingskombination. Ich danke dir, Bruderherz.“ Sie verpasste ihm einen herzhaften Kuss. Von hinten kam Bella angerannt und warf sich in die Arme ihres Onkels. John schwenkte sie herum.
„Hallo, mein Mädchen. Wie geht es dir?“
„Guuuuuuut. Gestern durfte ich in der Reitstunde zum ersten Mal galoppieren!“
„Donnerwetter, du musst mir beim Essen alles darüber erzählen. Wo ist dein Bruder?“
„Yo, John.“ Sein ältester Neffe Tommy kam herangeschlurft.
„Äh, yo.“ Mit seinen vierzehn Jahren fühlte Tommy sich zu alt für eine Umarmung, also reichte John ihm die Hand. Fasziniert starrte er den klobigen Silberring an, der die Nase seines Neffen zierte.
„Der ist wohl neu?“ Er bemühte sich, seinen Ton neutral zu halten. Tommys Augen leuchteten auf.
„Ja, cool, was?“
„Äh…“
„Kommt, wir essen jetzt. Ab zum Händewaschen.“ Geistesgegenwärtig hatte Maggie ihren Bruder vor einer Antwort gerettet.
„Ich hätte ihn erwürgen können, als er gestern mit diesem Ding hereinspaziert ist, einfach so, mir nichts, dir nichts.“, raunte sie John zu, während die Kinder im Badezimmer verschwanden. „Und Alan gleich mit dazu. Er findet dieses widerliche Teil, das seinen Sohn verunstaltet, „lässig“. Na, eigentlich kein Wunder.“
Alan Hughes hatte sich in seinen jungen Jahren regelmäßig auf dem Dachboden seiner Großmutter versteckt, um an allen möglichen technischen Geräten herumzuschrauben und er hatte wie ein Besessener Stunden und Tage mit den damals aufkommenden Computerspielen verbracht. Dann hatte er angefangen, selbst Spiele zu programmieren und an Gleichgesinnte zu verhökern. Für die Schule war dadurch verständlicherweise keine Zeit geblieben und so hatte er mit sechzehn Jahren ohne Abschluss die Lehranstalt verlassen. Seither hatte sein außerordentliches Talent für das Programmieren ihm zu seiner eigenen florierenden Firma verholfen, die die Computersysteme internationaler Organisationen gegen Angriffe von außen schützte.
Maggie und Alan hatten es geschafft, all diejenigen Lügen zu strafen, die vor über zwanzig Jahren prophezeit hatten, die Beziehung dieser so unterschiedlichen Menschen würde keine zwei Monate halten.
John lachte. „Ach, Maggie, du und Alan, ihr habt euch immer schon gut ergänzt, auch wenn eure Ansichten manchmal auseinandergehen. Mach dir keine Sorgen, Tommy wird sich schon nicht gleich den Hells Angels anschließen.“ Dabei fiel ihm etwas ein. „Hast du in letzter Zeit mit Mum gesprochen?“
Während sie die sämige Kürbissuppe verzehrten, diskutierten die beiden Geschwister lebhaft über Emmeline Mackenzies ungewöhnliches neues Interesse an der Red Hat Society.
„Wie bitte? Oma in einem lila Kleid?“ Bella kicherte. Sogar Tommy verzog einen Mundwinkel nach oben. Maggie schob ihren leeren Teller von sich.
„Eine meiner älteren Kolleginnen, die leitende Staatsanwältin für Wirtschaftsstrafverfahren, ist auch dort Mitglied. Ich denke, sie genießt die Aktivitäten dieser Gruppe als Kontrast zu ihrem Berufsleben. Die Red Hat Sisters haben sich auf die Fahnen geschrieben, die humorvollen und auch frivolen Seiten des Lebens gemeinsam auskosten zu wollen.“ Sie stand auf, um die Teller abzuräumen. „Ich finde es gut, dass Mum mal aus ihrem ewigen Kreislauf ausbricht. Schließlich hat das Leben noch andere Seiten zu bieten, als Haus und Garten, Enkel und Gartenclub.“ Auf dem Weg zur Küche drehte sie sich noch einmal um. „Ach übrigens, John, hast du schon gehört, dass Tante Isabel dieses Jahr mit uns Weihnachten feiern wird?“ Erstaunt sah John auf.
„Wie kommt das denn? Ist ihr die weite Reise nicht zu beschwerlich?“ Maggie zuckte die Schultern.
„Mit dem Flieger ist sie von Inverness in einer Stunde hier. Mum hat mich heute angerufen und mich gebeten, sie am 23. Dezember am Flughafen abzuholen und nach Kew zu bringen.“ Sie kicherte. „Scheinbar hatte Tante Isabel sich einfach selbst über die Feiertage eingeladen. Mum war einigermaßen aufgebracht, dass Isabel ihr am Telefon schlicht mitgeteilt hat, wann sie ankommen wird und dass sie eine extra Heizdecke in ihrem Zimmer wünscht. Ach, und natürlich bringt sie Sir Walter Scott mit.“ John sah seine Schwester an, als hätte sie den Verstand verloren. Auch Bella merkte auf.
„Sir Walter Scott? Von dem haben wir gerade in der Schule etwas gelernt. Er hat Ivanhoe geschrieben. Aber ist der nicht schon lange tot?“
„Über hundertsiebzig Jahre, Schätzchen. Aber Tante Isabels Walter Scott ist kein Schriftsteller, sondern ein Hund. Unsere Großtante ist nämlich nicht nur Schaffarmerin, sondern auch eine bekannte Hundezüchterin und Walter ist – oder war, sollte ich besser sagen, ihr letzter Champion. Mittlerweile ist er wohl schon in einem ziemlich gesegneten Alter. Ohne ihn geht sie nirgendwohin.“
„Jetzt kann ich mich wieder erinnern.“, sagte John. „Hat sie nicht irgendeine Terrier-Rasse gezüchtet? Als wir zuletzt bei ihr waren, hatten sie doch einen Rüden mit Namen Robert the Bruce, nicht wahr?“
„Du hast recht. Es waren Scotch Terrier und ihre besten Hunde trugen immer die Namen schottischer Nationalhelden.“ Maggie schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie ist nun mal Schottin durch und durch. Ich bin ja gespannt, ob sie und Mum sich wieder Redegefechte liefern werden. Dann werden die Weihnachtstage sicher amüsant.“ John nickte grinsend.
„Was sie wohl für einen Grund hat, nach so vielen Jahren wieder einmal herzukommen? Na, sie wird es uns schon mitteilen. Auf jeden Fall freue ich mich, das alte Mädchen wiederzusehen.“
Während sie den Gemüseauflauf aßen, hörte sich John geduldig die Pferdegeschichten seiner Nichte an, bis er das Gefühl hatte, er müsste selbst loswiehern.
„Hey, was ist das denn? Ihr veranstaltet hier eine Dinnerparty und sagt mir nichts?“ Mit gespielter Entrüstung stand Maggies Älteste in der Tür. Maureen Hughes, genannt Renie, die von ihrer Mutter deren soziale Ader und Organisationstalent und von ihrem Vater eine gehörige Portion von Unbeirrbarkeit – oder, wie Maggie es genannt hätte, Dickköpfigkeit – und Abenteuerlust geerbt hatte, studierte im zweiten Jahr Anthropologie in London.
Da sie partout so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen wollte, hatte sie ihr komfortables Zuhause für ein winziges Zimmer in einer Wohngemeinschaft aufgegeben. Nur zähneknirschend akzeptierte sie, dass ihre Eltern einen Teil ihres Lebensunterhaltes finanzierten. Den Rest verdiente sie sich selbst, indem sie bei Starbucks hinter der Theke stand, so oft es neben ihrem Studium ging.