„Schon lange, bevor die Kollegen in Deutschland eine mögliche Verbindung des Managers zu Julia Feldmann überprüfen konnten, erhielt die Polizei einen anonymen Hinweis auf eine Verwicklung des Ravenmasters in die Sache. Daraufhin startete Simon einfach ins Blaue hinein die Aktion mit den Fingerabdrücken aller Beefeater. Und Bingo – hatte er George im Sack.“ John stand wie vom Donner gerührt.
„Ein anonymer Anrufer? Wer könnte das sein?“
Maggie zuckte die Achseln.
„Das konnte bisher nicht ermittelt werden. Um ehrlich zu sein, interessiert Simon das auch nicht. Da er keinen anderen Verdächtigen hat, versucht er jetzt mit aller Macht, trotz der Ungereimtheiten ein Geständnis von George zu bekommen. Aber dein Freund übt sich beharrlich in Stillschweigen und treibt Simon damit noch zur Raserei.“
Beide Geschwister konnten sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen.
„Simon hat nun vor, Marcia so schnell wie möglich zu befragen. Ihr Arzt hat ihm bis jetzt ein Verhör untersagt, da er die Gefahr eines Nervenzusammenbruchs sieht, aber Simon wird sich nicht länger hinhalten lassen. Er hat vor, morgen mit einem forensischen Psychiater im Tower anzurücken, um ihre Vernehmungsfähigkeit kritisch zu prüfen.“ John runzelte die Stirn.
„Hm. Das wird sicher schwierig für Marcia. Dennoch verstehe ich, dass Simon mit ihr sprechen will. Niemand kann bezeugen, dass sie sich zur fraglichen Zeit wirklich in ihrer Wohnung aufgehalten hat. Und letzten Endes könnte es sein, dass George wirklich unschuldig ist und die Aussage verweigert, um seine Frau zu schützen.“ Spontan ergriff er Maggies Hände und drückte sie.
„Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Du bist ein großes Risiko eingegangen, um George zu helfen, aber die Informationen sind es wert, denke ich.“ Auf dem Weg zur Haustür fragte er, „Wie hast du es eigentlich geschafft, unauffällig an sie heranzukommen?“ Maggie legte den Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf.
„Du möchtest das gar nicht wissen, John. Und nun pass auf dich auf und sieh zu, was du für deinen Freund tun kannst.“
Am Eingang zur U-Bahn entschied John kurzerhand, nicht zurück zum Tower zu fahren. Er musste ein wichtiges Gespräch führen.
Kapitel 14
Wenig später stand er vor einem Polizeibeamten der Nachtschicht, der ihn misstrauisch beäugte.
„Grundsätzlich darf Mr. Campbell Besucher empfangen, aber er hat bisher jeden Kontakt nach außen abgelehnt. Außerdem schläft er vielleicht schon. Ist es denn so dringend? Vielleicht kommen Sie besser morgen früh wieder.“
„Nein, es handelt sich um einen Notfall.“, drängte John und zeigte dem Beamten seine verbundene Hand. „Mr. Campbell ist der Ravenmaster des Towers von London, wie Sie sicher wissen. Ich vertrete ihn, seit er verhaftet wurde. Allerdings gibt es nun große Probleme mit einem der Raben und da ich noch sehr unerfahren bin, brauche ich Georges Rat. Und zwar sofort. Sie werden sehen: Wenn Sie ihm sagen, dass es um die Raben geht, wird er einem Gespräch zustimmen.“ Mit einem zweifelnden Blick wandte sein Gegenüber sich um. Nach einem kurzen Telefonat brummte er, „Warten Sie da hinten.“
John setzte sich auf einen der unbequemen Besucherstühle.
Als nach einigen Minuten eine vergitterte Tür aufging und ein weiterer Polizist ihn zu sich winkte, tat sein Herz einen Sprung. Seine Finte hatte geklappt.
Nach einer umständlichen Prüfung seiner Personalien wurde er in einen fensterlosen Raum geführt, der von einer Plexiglasscheibe mit winzigen Löchern durchtrennt wurde. „Setzen Sie sich dahin. Er wird gleich kommen.“ Damit wurde er allein gelassen.
Als George wenig später eintrat, erschrak John. Mit seiner fahlen Hautfarbe und dem zerknitterten Gesicht wirkte George um viele Jahre gealtert. Der hoffnungslose Ausdruck in seinen Augen versetzte John einen Stich.
„Alter Freund! Ich freue mich, dich wiederzusehen.“, begrüßte er ihn warm.
„John, man hat mir gesagt, es hätte einen Notfall mit einem der Raben gegeben? Was ist los?“ John schluckte.
„Nun, George, ich muss zugeben, dass ich den Vorfall etwas übertrieben dargestellt habe. Tatsächlich hat Bran mich gestern angegriffen.“, beeilte er sich, hinzuzufügen und hob die Hand, damit George den Verband sehen konnte. „Das war jedoch mein Fehler und es war auch halb so schlimm. Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen, um dich zu einem Gespräch zu bewegen.“ Wortlos erhob George sich. John sprang ebenfalls von seinem Plastikstuhl auf. „George, hör mir zu, ich bitte dich, nur fünf Minuten. Bitte.“ Als George nicht reagierte und nur noch wenige Schritte von der Ausgangstür zum Zellentrakt entfernt war, wurde Johns Ton hart.
„Verdammt, George. Wenn schon nicht um deinetwillen, dann tu´s wenigstens für Marcia.“ Beim Namen seiner Frau erstarrte George.
„Willst du, dass Marcia damit leben muss, dass ihr Mann im Mordfall des Jahrzehnts für schuldig erklärt wird, und das nur auf Grund einiger Indizien und seiner Sturheit, die ihn jede Aussage verweigern lässt? Willst du unschuldig den Rest deines Lebens im Gefängnis sitzen?“ Langsam drehte George sich um.
„Du glaubst, dass ich unschuldig bin?“
„Ich sage dir, was ich glaube: Irgendetwas, ich weiß nicht was, verbindet dich mit der Toten. Aber du hast sie nicht umgebracht. Ich denke, du schweigst, um jemanden zu schützen.“
George ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Zu Johns Bestürzung vergrub er das Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Hilflos saß John hinter der Plexiglasscheibe. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die Wache durch das verglaste Guckloch der Tür hereinsah. Gleich darauf öffnete sich die Tür.
„Ist alles in Ordnung, Campbell?“ George nickte und wischte sich mit dem Ärmel seiner grauen Häftlingskleidung über das Gesicht. Der Beamte ließ sie wieder allein. Minutenlang herrschte Stille im Raum. Schließlich hob George den Kopf.
„Ich … muss nachdenken. Könntest du morgen wiederkommen?“ John nickte. George stand auf und gab der Wache durch das Glasfenster ein Zeichen, die Tür zu öffnen. Im Hinausgehen wandte er sich noch einmal um. „Wie geht es Marcia?“
„Die erste Zeit nach deiner Verhaftung war schlimm. Bonnie und Edwina Dunders waren rund um die Uhr bei ihr. Mittlerweile hat sie sich wieder ein wenig gefangen. Ihr Hausarzt hat eine Krankenschwester geschickt, die sich um sie kümmert.“ Wieder traten Tränen in Georges Augen. Wütend wischte er sie fort und sagte leise, „Bitte sag ihr, sie soll sich keine Sorgen machen. Und sag ihr … dass ich an sie denke.“
Als John den Tower betrat, war es bereits Mitternacht. Geistesabwesend grüßte er im Vorbeigehen seine Kollegen, die in dieser bitterkalten, klaren Nacht Dienst taten. Obwohl er nach der Fahrt in der überhitzten U-Bahn fror, ging er nicht auf kürzestem Weg zu seiner Wohnung. Stattdessen machte er einen Abstecher zum Rabenhaus.
Die nächtliche Beleuchtung des White Towers sorgte für einen schwachen Lichtschein auf der Wiese hinter der Voliere. Der Nachtfrost ließ seine Schritte leise knirschen. Da er die Raben nicht stören wollte, blieb er einige Meter vom Haus entfernt stehen. Einer der Vögel hob den Kopf aus dem Gefieder und steckte ihn gleich wieder hinein. Ansonsten war alles ruhig. Zufrieden ging John weiter und blieb dann unschlüssig mitten im Innenhof des Towers stehen. Marcia würde sich sicher sehr über Georges Botschaft freuen, nachdem sie tagelang nichts von ihm gehört hatte.
Also lenkte John seine Schritte zum Constable Tower in der äußeren Wallanlage des Towers. Dort waren etliche der Beefeater mit ihren Familien untergebracht. Die Campbells bewohnten eine geräumige Wohnung im Erdgeschoss. Durch die geschlossenen Vorhänge war im Wohnzimmer Lichtschein zu sehen. John klopfte an die Scheibe. Drinnen bewegte sich ein Schatten auf das Fenster zu.