„Ich bin´s, John Mackenzie. Ich habe eine Nachricht von George.“ Der Vorhang wurde beiseite geschoben und eine Frau in Schwesterntracht öffnete nach kurzem Zögern das Fenster einen Spalt breit. John stellte sich noch einmal vor.
„Ah, Sie sind derjenige, der Mrs. Campbells Gatten als Rabenpfleger vertritt. Sie hat mir von Ihnen erzählt. Worum geht es denn?“
„Ich komme gerade von Scotland Yard. Dort konnte ich mit George sprechen. Er bat mich, Marcia etwas auszurichten. Ist sie noch wach?“
„Das könnte sein. Als ich vor einer halben Stunde nach ihr gesehen habe, war sie noch nicht eingeschlafen. Kommen Sie einfach kurz herein, dann sehen wir nach.“
Im Wohnzimmer der Campbells war es gemütlich warm und John nahm dankbar auf dem Sofa Platz, während die Pflegerin – Ms. Doyle, wie auf ihrem Namensschild zu lesen stand – in den Flur verschwand. Gleich darauf ließ ihn ein Schrei hochfahren. Als er in das Schlafzimmer stürzte, starrte Ms. Doyle fassungslos auf das leere, sauber gemachte Doppelbett. „Aber wie konnte sie nur hinausgelangen? Ich war doch die ganze Zeit im Wohnzimmer.“, wimmerte sie.
„Da!“ John zeigte auf eines der Fenster. „Es ist einen Spalt offen. Sie muss hinausgeklettert sein.“ Er packte die aufgelöste Frau am Arm. „Schnell! Rufen Sie die Nachtwache an, die sollen eine sofortige Suchaktion einleiten. Die Nummer ist 111, das Telefon steht im Flur.“ Nachdem sie hinausgelaufen war, durchsuchte John fieberhaft das Zimmer nach einem Hinweis, wohin Georges Frau verschwunden sein könnte. Und tatsächlich, auf der Kommode sprang ihm ein Zettel ins Auge, der an einen Keramikengel gelehnt war.
Ich bekenne mich schuldig am Mord an Julia Feldmann. Meine Krankheit hat mich unzurechnungsfähig gemacht. Mein tiefstes Bedauern gilt der Toten sowie meinem Mann und meinem Sohn, die in keiner Weise mit dieser Sache zu tun haben und nicht für meine Tat bestraft werden sollen. Um weiteren Schaden von ihnen abzuwenden, nehme ich die Gerechtigkeit nun selbst in die Hand. Marcia Campbell
Ungläubig stand er einen Augenblick da, dann rannte er aus der Wohnung, den handgeschriebenen Zettel in der Jackentasche. Dunders hatte schnell reagiert, schon konnte John Stimmen und Schritte hören, die sich ihm eilig näherten. Zwei seiner Kollegen bogen im Laufschritt um die Ecke. „Sie hat vor maximal dreißig Minuten die Wohnung verlassen. Mittlerweile kann sie überall auf dem Gelände sein.“
Oder bereits tot. Diesen Gedanken sprach John nicht aus. „Verteilen wir uns.“
Die beiden Männer rannten in entgegengesetzte Richtungen entlang des äußeren Walls davon, John durch einen Gang neben dem Hospital Block in den Innenhof des Towers. Dort stieß er auf Philip Dunders, der neu hinzustoßende Männer methodisch mit Funkgeräten ausstattete und in verschiedene Richtungen dirigierte.
„Verflucht, falls sie sich etwas antun will, gibt es dutzende Stellen. Allein all die Orte, von denen sie sich in die Tiefe stürzen könnte.“ Unwillkürlich sahen sie zu den Zinnen des White Towers hinauf, dreißig Meter über ihnen.
„Wissen wir, ob sie irgendwelche Schlüssel mitgenommen hat? Wenn sie Georges Schlüsselbund hat, dann kann sie überall hinein.“
„Ich versuche, es herauszufinden.“ John sprintete zurück zum Constable Tower. Die Wohnungstür stand offen.
„Ms. Doyle! Wir brauchen Ihre Hilfe.“ Die Pflegerin hatte sich wieder gefasst und kam aus dem Schlafzimmer gelaufen.
„Soweit ich das sehen kann, ist sie in Morgenmantel und Pantoffeln unterwegs. Ihr Schrank scheint unberührt und an eine Jacke kam sie nicht heran, die hängen alle im Flur.“
Oh Gott, dann hat sie allein schon durch die eisigen Temperaturen kaum eine Chance, wenn sie draußen ist, stöhnte John innerlich. „Haben Sie eine Ahnung, wo die Campbells ihre Schlüssel aufbewahren? Vielleicht in der Garderobe?“
„Ich weiß es nicht. Sehen wir nach.“
John riss einige Schubladen auf und erblickte Georges vertrauten Schlüsselbund. Er raste zurück in den Innenhof. Chief Mullins war mittlerweile zu Dunders gestoßen. Er sprach gerade in ein Funkgerät.
„Schlüssel hat sie keine bei sich, wir können uns also auf die Außenanlagen konzentrieren.“, brachte John schnaufend hervor. „Und sie ist nur mit einem Morgenmantel bekleidet.“ Mullins ließ das Funkgerät sinken.
„Nord-, West- und Südwall sind gecheckt. Ein Trupp durchsucht jetzt die Mauerumgänge im Osten.“ John zog ihn einige Schritte zur Seite.
„Hier ist der Zettel, den sie zurückgelassen hat.“ Mullins las halblaut „…nehme ich die Gerechtigkeit nun selbst in die Hand. Hm. Das hört sich an, als habe sie ein Zeichen setzen wollen – “ Er ließ den Blick über den hell erleuchteten Innenhof des Towers schweben. „Man sollte meinen, der symbolträchtigste Ort wäre der Hinrichtungsplatz. Am Tower Green ist sie aber offensichtlich nicht. Was könnte sonst noch ein geeigneter Ort sein…“ Einen Augenblick lang sahen Chief Mullins und John sich an, dann rannten beide wortlos los.
Durch den Bloody Tower hinaus in die Water Lane, zum Verrätertor. Der Pegel der Themse, dessen eiskaltes Wasser die dunkle Nische füllte, hatte beinahe die Obergrenze erreicht. Mullins packte John am Arm.
„Da hinten!“ Im selben Augenblick entledigten sich beide Männer ihrer Jacken und Schuhe, sprangen über das Geländer und tauchten in das nachtschwarze Themsewasser ein.
Die Kälte raubte John den Atem. Er hatte das Gefühl, sein Herz wäre stehengeblieben. „Nun machen Sie schon, Mackenzie. Helfen Sie mir!“ Als er die energische Stimme des Chiefs hörte, löste er sich aus seiner Erstarrung. Mit wenigen Zügen war er am Gitter des Verrätertores angelangt. Gemeinsam bugsierten sie Marcias leblose Gestalt hinüber zum Geländer, wo mehrere Beefeater ihnen helfend die Hände entgegenstreckten. Jemand hatte geistesgegenwärtig das kleine Tor im Geländer aufgesperrt, so dass sie ihren Körper in die Water Lane hinaufziehen konnten.
Doc Hunter war bereits zur Stelle. Ohne Mullins´ Hilfe hätte John es nicht mehr die Betonstufen hinauf geschafft, die unter Wasser hinauf zur Water Lane führten. Mullins schob und von oben zogen einige Kollegen an ihm, bis er neben Marcia auf dem Pflaster der Water Lane lag. „Schnell, schnell, Bahren aus der Krankenstation“, befahl Hunter. Während einige Männer davonrannten, ließ Mullins sich neben John auf den Boden fallen.
„Ist … sie noch am Leben?“, krächzte er. John hob mühselig den Kopf und blickte zu Marcia hinüber. Hunter hatte sie in eine wärmespeichernde Rettungsfolie eingewickelt, bis er Decken gebracht bekam. Er antwortete nicht. Mit grimmigem Gesicht begann er mit einer Herzdruckmassage.
Nach wenigen, endlos erscheinenden Minuten, in denen John mit dem Bedürfnis kämpfte, einfach die Augen zu schließen und sich in ein schwarzes Loch fallen zu lassen, wurden die beiden Männer in Decken gehüllt und auf zwei Bahren gelegt. Zugleich kam aus dem Byward Tower ein Notarztteam herbeigeeilt. „Ich fahre mit ihr in die Klinik. Ihr beide lasst euch in der Krankenstation versorgen.“, bestimmte Doc Hunter. Mullins protestierte schwach.
„Ich will euch in die Klinik begleiten.“
„Sie hören jetzt auf mein Kommando. Ihr habt genug getan. Ich halte euch auf dem Laufenden.“ Weg war der Arzt. Also ließen John und Chief Mullins sich quer durch den Tower zu der kleinen Krankenstation neben der Wohnung des Docs bringen. Ms. Doyle, die sich sichtlich Vorwürfe wegen des Verlusts ihrer Patientin machte, freute sich, sich nützlich machen zu können. Sie wies ihre Helfer an, den beiden Unterkühlten die stellenweise steif gefrorene Kleidung vom Körper zu ziehen. Frank Abbott rief kurzerhand seine Frau an, die heißen Tee, Heizdecken und Wärmflaschen organisierte. Nachdem die Pflegerin Temperatur, Puls und Blutdruck gemessen hatte, nickte sie zufrieden. „Ihre Körpertemperatur ist nicht im kritischen Bereich, dazu war Ihr Aufenthalt in dem Eiswasser Gott sei Dank zu kurz. Sie haben beide momentan sehr hohen Blutdruck, aber das ist normal in einer solchen Situation. Passen Sie nur auf, morgen bleibt Ihnen als Erinnerung an Ihr Abenteuer höchstens ein kleiner Schnupfen.“