„Verdunklungsgefahr? Verdammt, Simon, so etwas kannst du mir nicht einfach unterstellen. Du – “
„Vorsicht, was du sagst, John. Bevor du dich hier noch weiter echauffierst, sieh dir das mal an.“ Er zog ein Foto aus einer Schublade und warf es John hin. Sprachlos starrte John auf das Bild.
„Das willst du gegen mich verwenden? Das meinst du nicht ernst.“ Whittington würdigte ihn keines Blickes und beschäftigte sich hingebungsvoll mit seiner Zigarre. John hielt es nicht mehr in seinem Sessel. „Wie viele Jahre ist das her? Mindestens fünfundzwanzig. Ich war damals noch nicht mal volljährig. Ich bekam eine Ermahnung und das war´s. Nicht mal die Army hat das interessiert und du kannst mir glauben, die prüfen das Vorleben eines jeden sehr genau.“
„Immerhin habt du und deine Ökofreunde damals mit euren Sitzstreiks auf der Zufahrtsstraße den Betrieb in Sellafield so gut wie lahm gelegt und die Polizei an der Ausübung ihrer Pflichten gehindert.“
„Die Betreiberfirma hatte radioaktive Abfälle ins Meer geleitet und riesige Gebiete verseucht! Damals sind Leute aus dem ganzen Land mit Bussen nach Sellafield gefahren, um zu demonstrieren – “
„Das tut hier nichts zur Sache. Widerstand gegen die Staatsgewalt und Eingriff in den Straßenverkehr – und dazu noch die Tatsache, dass ihr Beefeater bekanntermaßen eine verschworene Gemeinschaft seid, deren Mitglieder füreinander lügen würden, ohne mit der Wimper zu zucken – für Sir Fenton Carruthers war das Grund genug, Kontakte zu dir und dem Rest der Tower-Bagage vorerst zu unterbinden.“ Das selbstzufriedene Lächeln verschwand.
„Lass dir etwas gesagt sein: Das war das letzte Mal, dass du dich in meine Ermittlungen eingemischt hast. Ansonsten wirst du dich wundern, welche Geschütze ich noch auffahren kann.“ Whittington lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. „Und nun wünsche ich dir einen guten Tag. Constable Hewitt wird dich zum Ausgang geleiten.“
In seinem Kopf toste es, als John neben Mullins auf dem Rückweg von Sir Fitzgeralds Kanzlei im Taxi saß. Der Anwalt hatte versprochen, sich umgehend nach ihrem Gespräch zu Scotland Yard aufzumachen. Empört über Whittingtons Schachzug hatte er für den folgenden Tag einen Termin beim leitenden Staatsanwalt erwirkt. „Was der Superintendent da vorbringt, ist einfach lächerlich. Aber er hat beim alten Carruthers einen Stein im Brett, und zwar nicht erst, seit er die Bayswater-Morde im letzten Jahr so schnell aufgeklärt hat. Ich werde sehen, was ich tun kann, um dieses hanebüchene Kontaktverbot wieder aufheben zu lassen. Einstweilen hoffen wir, dass George in dieser Lage endlich zu einem Gespräch mit ihm bereit ist.“
Müde lehnte John sich in das zerschlissene Polster zurück. Er hatte das Ohrensausen, das nach Brans Attacke schnell wieder abgeklungen war, wie einen alten Bekannten begrüßt. Einen Bekannten, der sich hoffentlich bald wieder verabschiedete.
Wenn er an die Szene in Whittingtons Büro zurück dachte, spürte er wieder ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. „Es geht Whittington wie immer nur um eins: Macht. Dieses egomanische Scheusal, dieser….“, grummelte er vor sich hin.
„Sie sehen schrecklich aus, Mackenzie.“, bemerkte Mullins mit einem Seitenblick. „Ich lasse sie für ein, zwei Tage vom Dienst befreien. Erholen Sie sich erst mal.“
„Nein, Chief. In der letzten Zeit habe ich sowieso kaum einmal regulär Dienst geschoben. Die heutige Nachtwache im Byward Tower übernehme ich auf jeden Fall, das schaffe ich schon.“ Er nieste wieder. „Ihnen scheint das alles gar nichts auszumachen. Sie müssen eine eiserne Konstitution haben, Chief.“ Mullins grinste.
„Sagen wir mal so: In fünfundzwanzig Jahren Einsatz bei der Royal Air Force habe ich vielleicht eine größere Widerstandskraft gegen Stress, Kälte und Vogelangriffe entwickelt als Sie hinter Ihrem Schreibtisch.“ Er lachte herzhaft. „Aber machen Sie sich keine Gedanken, Mackenzie: Für einen Psycho-Onkel halten Sie sich ganz brauchbar.“
John hatte gehofft, nach der Abendfütterung eine Mütze voll Schlaf zu erwischen, bevor er um 22.00 Uhr seinen Wachdienst antrat. Das Klingeln des Telefons riss ihn jedoch unsanft aus dem Schlummer. „Sind Sie das, Mr. Mackenzie? Walters am Apparat.“
„Oh, Sir Fitzgerald, guten Abend.“ Nun war er wieder hellwach. „Was gibt es? Konnten Sie mit George sprechen?“
„Ja. Ich habe versucht, ihm den Selbstmordversuch seiner Frau möglichst schonend beizubringen, aber er war dennoch schwer getroffen. Als ich ihm sagte, dass Sie vorerst nicht mit ihm sprechen dürften, erwiderte er, dann würde er warten, bis man Sie wieder zu ihm lassen würde. Er scheint kein Vertrauen zu mir zu haben.“, schloss der Anwalt gekränkt.
„Das hatte ich befürchtet. Sir Fitzgerald, bitte versuchen Sie Ihr möglichstes, damit der Staatsanwalt die Kontaktsperre möglichst schnell wieder aufhebt. George verfügt über wichtige Informationen, ohne die wir nicht weiterkommen.“ Der Anwalt versprach es und legte auf. Flüchtig überlegte John, ob er Maggie bitten sollte, bei ihrem Kollegen ein gutes Wort für ihn einzulegen. Dann entschied er sich dagegen, um seine Schwester nicht noch weiter in die Sache hineinzuziehen. Sie hatte ohnehin schon ein beträchtliches Risiko auf sich genommen.
Nachdem er die Besucher der Schlüsselzeremonie vollzählig hinausgelassen hatte, setzte John sich hinter den Schreibtisch im Byward Tower und lauschte dem Ticken der Wanduhr. Der Zeiger bewegte sich nur quälend langsam vorwärts, während er mit dem Wunsch kämpfte, den Kopf auf die Arme zu legen und die Augen zu schließen. Aber dann würde er sicher nicht rechtzeitig zu seinem Kontrollgang um 23.30 Uhr aufwachen. Auf der Suche nach einer Ablenkung durchblätterte er die Aufzeichnungen der Wache. 178 High Holborn, London WC1. Julia Feldmanns Adresse sprang ihm ins Auge. Ein Blick in die Datenbank des Towers ergab auch ihre Telefonnummer, die alle Bewerber für ein Ticket zur Schlüsselzeremonie angeben mussten. Ohne sagen zu können, warum, griff er zum Telefon.
Da die Polizei das Apartment sicher noch nicht zur Weitervermietung frei gegeben hatte, erwartete er, dass sich niemand melden würde.
„High Holborn Residence, Empfang, Garrett am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Verdattert hielt John den Hörer in der Hand, aus dem die gelangweilte Stimme drang. Er hatte sich keinerlei Gedanken gemacht, was er sagen sollte. Dann kam ihm eine Idee.
„Äh, guten Abend. Wir suchen eine Unterkunft für unsere Tochter. Meine Frau hat gehört, dass in Ihrem Studentenwohnheim ein Einzelapartment frei geworden ist.“
Der Mann schnaubte. „Das kann man so sagen. Die Vormieterin dürfte das wohl prominenteste Mordopfer des Vereinigten Königreichs sein. Sie haben sicher davon gelesen.“
„Natürlich. Eine schreckliche Geschichte. Ist das Apartment denn schon wieder zugänglich?“
„Gestern haben wir endlich die Freigabe von der Polizei bekommen. Sie haben ohnehin längst alles mitgenommen, was Miss Feldmann gehört hat. Aber hören Sie, Mister, wir nehmen während der Vorlesungszeiten nur Studenten der London School of Economics.“
„Unsere Tochter ist gegenwärtig im ersten Jahr an der LSE. Momentan lebt sie in einer WG, aber sie versteht sich mit ihren Mitbewohnern nicht und möchte daher so schnell wie möglich ein Einzelapartment beziehen.“
„Aha. Naja, wenn Sie wollen, dann kommen Sie doch in den nächsten Tagen vorbei und sehen sich das Zimmer an. Normalerweise haben wir eine Warteliste für freie Räume, aber mitten unter dem akademischen Jahr haben die meisten Studenten schon etwas gefunden und der große Run setzt dann erst wieder ein, kurz bevor nächstes Jahr die neue Vorlesungszeit beginnt. Aber ich sage Ihnen gleich, die High Holborn Residence ist ein sehr gepflegtes Haus mit bester Ausstattung und zentraler Lage. Der Preis ist also entsprechend.“