„Gute Idee, John. Natürlich mache ich das.“
„Allerdings bräuchten wir noch Aufnahmen von Richard Campbell und auch von seinem Manager.“
„Ach, das ist kein Problem. Die finde ich mit Sicherheit im Internet. So professionell, wie Richard seinen Wahlkampf führt, hat er sicher eine eigene Seite im Netz. Treffen wir uns doch zum Frühstücken bei Collier´s, dann kannst du mir die Fotos geben.“ Als sie sich verabschiedeten, hörte sie sich schon wieder vergnügt und voller Tatendrang an.
Obwohl er sich erschöpft fühlte, schlief John in dieser Nacht erst spät ein. Kurze Zeit später schreckte er hoch, weil er geträumt hatte, das Telefon würde klingeln. Das Rrring, Rrring, war so intensiv gewesen, dass er aus dem Bett sprang und zum Telefon hastete. Erst als er den Hörer in der Hand hielt, aus dem das Freizeichen erklang, wurde ihm bewusst, dass er geträumt hatte. Brummelnd suchte er sich in der dunklen Wohnung den Weg zurück ins Bett.
Die Uhr von St. Peter ad Vincula schlug zehn. Der Zapfenstreich des Trompeters verklang. John trat durch den düsteren Durchgang im Bloody Tower hinaus in die von dickem Nebel verhüllte Water Lane. Der Nebel schien ihn zu verschlucken. Er hörte die Themse leise gluckern. Ohne jede Orientierung tappte er herum, bis er sich plötzlich schmerzhaft das Bein an etwas Metallischem stieß. Das Geländer vor dem Verrätertor. Er klammerte sich daran, dankbar für einen Halt in diesem undurchdringlichen Wabern. Mit einem Mal teilten sich die Schwaden und er konnte vor sich die Nische sehen, hinter der sich das Falltor in der Festungsmauer als Silhouette abzeichnete. Zwei Gestalten waren dort unten, eine davon in der vertrauten Uniform der Beefeater. „Wer ist da?“, rief er. Da wandte sich ihm die uniformierte Gestalt zu, beide Hände in einen Schal verkrampft, der um den Hals eines gesichtslosen Mädchens lag. „George!“, hörte John sich ausrufen. „Hör auf, du bringst sie ja um!“ Dann jedoch bemerkte er, dass Georges Arme von dünnen Seilen gehalten wurden, ebenso sein Kopf und seine Beine. Oh Gott, er ist eine Marionette. Neben John tauchte aus dem Nichts ein junges Mädchen auf. Angela. „Dieses Miststück hat es verdient, endlich mal eins auf die Mütze zu kriegen.“ Sie kicherte dämonisch und löste sich in Luft auf.
Das Herz klopfte John bis zum Hals, als er erwachte. Er tappte zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Genauso wie in seinem Traum hatten sich dichte Nebelschwaden über den Tower gelegt, die alles verschluckten. Während er wartete, dass sein Herzschlag sich beruhigte, hatte er das Gefühl, dass sich in dem Gewirr in seinem Kopf plötzlich Konturen abzuzeichnen begannen. Morgen – oder vielmehr heute – früh musste er nach seinem Treffen mit Renie als erstes in den Yard.
Kapitel 18
„Aber das kommt mir doch sehr weit hergeholt vor. Du glaubst also ernsthaft, dass jemand diesen Mord begangen hat, um ihn mir in die Schuhe zu schieben? Wie könnte ein Mensch derart … bösartig sein?“
„Rache ist eine mächtige Triebfeder, George. Und mir kommt dieser ganze Mord mittlerweile vor wie eine sorgsam geplante Inszenierung, die darin hätte gipfeln sollen, dass du am Tatort neben der eben verblichenen Julia Feldmann angetroffen wirst. Dabei hätten die Fotos in ihrem Rucksack auch gleich noch das Motiv mitgeliefert.
Also bitte überlege, ob dir jemand einfällt, der – vielleicht schon seit langer Zeit – Rachegefühle gegen dich hegen könnte.“
George legte die Stirn in Falten und schwieg eine Weile. Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Mir fällt wirklich niemand ein.“
John zog ein Papier aus der Tasche und hielt es vor die Plexiglasscheibe, so dass George es lesen konnte.
„Das sind all die Leute, die für den Mordabend kein Alibi haben. Hauptsächlich sind es Männer aus unserer Truppe, die sich zusammen das Fußballspiel angeschaut haben. Von denen hätte jeder unbemerkt ein paar Minuten im fraglichen Zeitraum verschwinden können, ohne dass es aufgefallen wäre. Dazu kommen Adams, der allein im Byward Tower Dienst hatte, unser Barmann, der angeblich hinten im Lagerraum geraucht hat, sowie Richard und Nigel Owen, falls einer für den anderen gelogen hat.“
George ließ langsam den Blick über die Liste wandern. „Hm, natürlich hat es über die Jahre hinweg gelegentlich kleinere Unstimmigkeiten mit dem einen oder anderen Kollegen gegeben, aber es ging nie um etwas Schwerwiegendes. Carl Ferris hatte damals, als der Posten des Ravenmasters nach der Pensionierung des alten Geoffrey neu besetzt werden sollte, ebenfalls Ambitionen auf die Stelle. Unser damaliger Chief entschied sich für mich und Ferris war dann eine Weile etwas verschnupft. Aber das ist zwanzig Jahre her und außerdem bringt man doch wegen so einer Sache niemanden um.“ Als er am Ende von Johns Aufzeichnungen angelangt war, schüttelte George ratlos den Kopf.
„Wie war es vor deiner Zeit im Tower? Gab es vielleicht während deiner Militärzeit einmal irgendeinen Vorfall, den dir jemand übelnahm?“, bohrte John unbeirrt weiter.
„Da war einmal etwas…“, begann George zögernd.
„Ja?“
„Es war in den letzten Wochen meiner Dienstzeit. Ich war als Nachschuboffizier meiner Einheit, der Seaforth Highlanders, in unserem Hauptquartier in Fort George stationiert.“
John nickte. Er hatte die Kaserne, die in einem Teil der gigantischen Festung aus dem achtzehnten Jahrhundert in der Nähe von Inverness untergebracht war, vor langer Zeit mit seinen Eltern besichtigt.
„Da war dieser junge Sergeant, Gerry Burrows. Er war für die Medikamentenlieferungen an die Einheiten im Ausland zuständig. Er hatte einen raschen Aufstieg gemacht, war sehr engagiert und ehrgeizig. Eines Tages kam ich durch einen Zufall darauf, dass er einen Teil der Medikamente, besonders Psychopharmaka, beiseiteschaffte und einen schwungvollen Handel damit betrieb. Es waren nie große Mengen und er hatte es so clever aufgezogen, dass über ein, zwei Jahre hinweg niemandem etwas aufgefallen war. Als ich ihn damit konfrontierte, versuchte er mit allen Mitteln, mich dazu zu bewegen, von einer Anzeige abzusehen. Er bot an, mich am Geschäft zu beteiligen. Er jammerte mir in höchsten Tönen vor, dass eine Verurteilung wegen Unterschlagung zu seiner unehrenhaften Entlassung führen würde und seine Eltern am Boden zerstört wären. Er drohte, mir zusammen mit einigen Kameraden das Leben im Fort zur Hölle zu machen. Schließlich hatte er eine ganze Reihe Abnehmer für seine Mittelchen in unserer Kaserne, die durch mein Handeln ihre Nachschubquelle verloren. Na, wie dem auch sei, ich habe einen Bericht erstellt und an die Führung weitergeleitet. Kurz nach der Verhandlung bin ich aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und seither habe ich nie wieder von Gerry Burrows gehört.“
„Hmm. Wie alt müsste der Mann jetzt sein?“
George überlegte. „Ein paar Jahre älter als du, schätze ich, so Mitte bis Ende Vierzig.“
„Könnte er eine Verbindung zu einem unserer Männer haben?“
„Ich habe keine Ahnung, John. Auf jeden Fall hat mir gegenüber nie jemand erwähnt, dass er ihn kennen würde.“
„Wir bitten Chief Mullins um Hilfe. Mit Sicherheit kennt er jemanden, der ihm Einsicht in die Militärarchive geben kann.“
Mit neu erwachter Energie machte John sich auf den Rückweg in den Tower.
„Ich klemme mich sofort ans Telefon“, versprach Mullins, nachdem John ihm von seiner Theorie und dem Gespräch mit George erzählt hatte. „Ach, und dann habe ich noch eine kleine Aufgabe für Sie, Mackenzie: Sie wissen doch, dass morgen der große Weihnachtsbasar unserer Handarbeitsgruppe abgehalten wird. George sollte als unser Ravenmaster auch ein paar Worte sagen. Da Sie ja momentan unser Rabenpfleger sind, übernehmen Sie das. Am besten sprechen Sie mit Edwina Dunders darüber. Morgen früh um zehn Uhr geht es los.“