Die unteren Stockwerke waren leer, ganz oben trafen sie auf Abt Segdae, der hinter dem stand, was man bei einer Wehranlage die Brustwehr genannt hätte. Eine brusthohe Mauer umgab das Dach, und von dort konnte man das Gelände um die Abtei herum überblicken.
Abt Segdae war nicht allein. Neben ihm stand die stämmige Gestalt des Kaufmanns Samradan. Segdae hielt sich im Schutz der Mauer und starrte über den Platz auf die Stadt. Seine Schultern waren herabgesunken, die geballten Fäuste hielt er in die Seiten gestemmt, sein Kopf war vorgeschoben, und so beobachtete er grimmig das Geschehen. Samradan schien gleichfalls von dem Schauspiel gebannt. Sie grüßten Fidelma und Eadulf nicht, als diese auf das Dach stiegen.
Fidelma und Eadulf hatten bereits ein unheimliches rotes Glühen bemerkt, ein seltsames gelbrot flackerndes Licht, das sich über die Vorderseite der Abtei ergoß. Sein merkwürdig drohender Schein wurde von den niedrig hängenden Wolken zurückgeworfen. Offensichtlich standen schon viele Häuser der Stadt in Flammen. Die Schreie der Menschen und das angstvolle Wiehern der Pferde drangen herüber. Außerhalb der Mauern der Abtei herrschte ein wildes Durcheinander. Berittene jagten hin und her über den Platz und durch die Straßen, die einen mit Brandfackeln in den Händen, die anderen Schwerter schwingend. Es war klar, daß die ungeschützten Gebäude des Ortes den ersten Ansturm auszuhalten hatten. Nachdem sich ihre Augen an das eigenartige Zwielicht der von brennenden Gebäuden und irrlichternden Fackeln erhell-ten Nacht gewöhnt hatten, konnte Fidelma noch etwas ausmachen. Hier und da lagen dunkle flache Hügel auf dem Boden, offenbar Leichen. Dann sah sie auch, wie Menschen einzeln oder in kleinen Gruppen um ihr Leben rannten, von berittenen Kriegern verfolgt. Ab und zu verriet ein Schrei, daß eine Klinge ihr Opfer gefunden hatte.
Fidelma wandte sich erbittert an Abt Segdae.
»Gibt es kein Mittel, Imleach zu retten?« fragte sie.
Der Abt schien zu benommen, um zu antworten. Er wirkte plötzlich wie ein gebrechlicher alter Mann. Fidelma schüttelte ihn ungestüm am Arm.
»Segdae, dort werden unschuldige Menschen niedergemacht. Gibt es keine Krieger in der Nähe, die wir herbeirufen können?«
Fast widerwillig wandte ihr der Abt sein spitzes Gesicht zu. Er hatte Mühe, sie zu erkennen.
»Die nächsten Krieger sind die deines Vetters, des Fürsten von Cnoc Äine.«
»Gibt es eine Möglichkeit, sie zu alarmieren?«
Abt Segdae hob die Hand, als wolle er auf den Glockenturm auf der anderen Seite der Abtei zeigen. Die Glocke läutete verzweifelt weiter. »Das ist unser einziges Mittel.«
Samradan starrte wie hypnotisiert auf das Geschehen, sein Gesicht war kalkweiß. Selten hatte Fidelma so nackte Furcht im Gesicht eines Mannes gesehen. Selbst in dieser Lage fragte sie sich: Was hatte doch Vergil geschrieben? Die Furcht verrät unwürdige Seelen. Warum war ihr das in den Sinn gekommen? Es gab nichts Häßlicheres, dachte sie, als Furcht im Gesicht eines Menschen.
Der stämmige Kaufmann wandte sich jetzt an den Abt. »Glaubst du, daß sie die Mauern der Abtei erstürmen?« In seiner Stimme lag noch mehr als Furcht.
»Dies ist keine Festung, Samradan«, erwiderte der Abt düster. »Unsere Tore sind nicht dazu geschaffen, einem Heer zu widerstehen.«
»Ich verlange Schutz! Ich bin nur ein Kaufmann. Ich habe niemandem etwas getan ... Ich bin kein Krieger, der kämpfen kann ...« Seine Stimme wurde schrill vor Panik. Das schien Abt Segdae aus seiner Lethargie aufzurütteln.
»Dann geh runter in die Gewölbe unter der Kapelle zu den Frauen!« fauchte er. »Überlaß es uns, uns zu verteidigen - und dich!«
Der Kaufmann duckte sich beinahe unter diesen Worten.
Fidelma schnaubte verächtlich. Dann sagte sie zu Eadulf: »Bring Samradan ins Kellergewölbe und bitte Bruder Madagan hierher.« Das Befehlen fiel ihr plötzlich leicht, sie gehörte zu den Eoghanacht von Cashel, und dies war ihr Volk.
Mit derbem Griff zog Eadulf den zitternden Kaufmann fort von dem Anblick von Tod und Zerstörung, der sich ihnen bot.
Fidelma blieb neben Abt Segdae stehen und betrachtete das Bild des Grauens mit wachsendem Zorn.
Sie sah, wie die Schmiede in Flammen aufging. Mehrere Gebäude waren schon niedergebrannt. Sie versuchte die schattenhaften Gestalten der Berittenen genauer in Augenschein zu nehmen, aber in der Dunkelheit war wenig zu erkennen, außer daß sie Kriegshelme und einige von ihnen Kettenhemden trugen, jedoch keine Abzeichen, die ihre Herkunft verrieten.
Sie hörte Schritte auf der Treppe, dann trat Bruder Madagan atemlos auf das Dach hinaus.
Grimmig sah er zu der brennenden Stadt hinüber.
»Sie haben sich zuerst für die leichtere Aufgabe entschieden«, meinte er. »Wenn sie die wehrlose Stadt ausgeplündert haben, werden sie zum Angriff auf die Abtei übergehen.«
Abt Segdae schrie plötzlich auf und stürzte rücklings zu Boden. Überrascht schauten sie ihn an. Er hatte eine blutende Wunde an der Stirn. Fidelma sah sich einen Moment ratlos um. Sie hatte etwas aufschlagen hören. Dann nahm sie einen Kieselstein auf.
»Von einer Steinschleuder«, stellte sie fest. »Halten wir uns lieber von der Mauer fern.«
Bruder Madagan kniete schon neben dem Abt.
»Ich lasse Bruder Bardan holen, unseren Apotheker. Das Geschoß hat ihn an der Stirn getroffen. Er ist bewußtlos.«
Fidelma schlich sich vorsichtig gebückt zur Mauer. Ein Schütze mußte im Vorbeireiten einen glücklichen Treffer erzielt haben. Von einem planmäßigen Angriff auf die Abtei war noch nichts zu bemerken. Die Reiter jagten weiterhin kreuz und quer durch den Ort.
»Wenn sie uns wirklich angreifen, halten unsere Mauern den Kriegern nicht lange stand«, murmelte Bruder Madagan, der ihrem Blick gefolgt war und ihre Gedanken erriet.
Fidelma wies auf den Glockenturm, von dem immer noch das Geläut schallte.
»Wird uns das Hilfe bringen?«
»Vielleicht, aber man kann nicht mit Sicherheit darauf rechnen.«
»Dann stimmt es also, daß es die nächsten Krieger erst in Cnoc Äine gibt?«
»Ja. Wir können nur hoffen, daß Finguine in Cnoc Äine die Glocke hört.«
»Sechs Meilen ist er entfernt, schätze ich«, sagte Fi-delma. »Ob sie das Läuten wirklich hören?«
Bruder Madagan verzog das Gesicht. »Wir können uns nicht darauf verlassen, aber es ist möglich. Es ist noch Nacht, und der Schall unserer Glocke trägt weit.«
»Aber fest rechnen können wir nicht damit«, wiederholte Fidelma bitter. Sie blickte erneut hinüber zum Schauplatz der Verwüstung. »Wer sind diese Leute? Warum sollten sie die Abtei angreifen?«
»Ich habe keine Ahnung. In der ganzen Geschichte unserer Gemeinschaft hat noch nie jemand diesen heiligen Ort angegriffen.« Plötzlich hielt er inne.
»Was ist?« fragte Fidelma.
Bruder Madagan mied ihren Blick. »Die Legende. Vielleicht stimmt sie doch?«
Einen Augenblick verstand Fidelma nicht, was er meinte, dann begriff sie.
»Das Verschwinden der Reliquien Ailbes! Aberglaube, weiter nichts.«
»Aber es paßt so gut zusammen. Die heiligen Reliquien sind verschwunden. Es heißt, wenn sie diesen Ort verlassen, stürzt Muman. Nun sind sie fort, und die Abtei wird zerstört!«
Auch Fidelma fürchtete das, und gleichzeitig machte diese Furcht sie wütend.
»Du Narr! Noch ist die Abtei nicht zerstört, und sie wird es auch nicht, wenn wir uns dazu aufraffen, sie zu verteidigen.«
Eadulf kam zurückgeeilt. Entsetzt blickte er auf die reglose Gestalt des Abts. »Ist er ...«
»Nein«, erwiderte Bruder Madagan. »Segdae ist von einem Wurfgeschoß getroffen worden. Kannst du jemand finden, der unseren Apotheker Bruder Bardan holt?«
Eadulf wandte sich wieder zur Treppe. Gleich darauf war er zurück. »Ein junger Bruder sucht den Apotheker.«