»Einige der Angreifer ziehen ab«, bemerkte er verwundert. »Warum wohl?«
Fidelma blickte wieder nach Süden. Die Berittenen, die sie im trüben Morgenlicht erspäht hatte, waren nun im Licht der gerade aufgehenden Sonne, das den Wald erhellte, deutlicher zu erkennen. Es waren ungefähr zwanzig bis dreißig Reiter. Über ihnen flatterte ein Banner.
Es trug einen Hirsch auf blauem Grund.
»Das ist das Banner der Eoghanacht!« rief sie aus.
Die Reiter galoppierten über die Ebene auf die Abtei zu.
Mit erleichterter Miene wandte sich Fidelma zu Ea-dulf um. »Ich glaube, das sind Männer von Cnoc Äi-ne«, sagte sie erregt. »Sie müssen die Glocke der Abtei gehört und darauf reagiert haben.«
»Das wäre die Erklärung dafür, daß die Angreifer so eilig verschwinden.«
»Gehen wir hinunter und sagen wir es den anderen.«
Am Fuße des Turms trafen sie Bruder Tomar und Abt Segdae. Letzterer sah noch erschöpft und bleich aus und hatte eine bläuliche Beule auf der Stirn, schien sich aber wieder gefangen zu haben. Ein Trompetensignal ertönte, als sich die Reiterkolonne der Abtei näherte. Abt Segdae erkannte es sofort, Fidelma brauchte ihm nichts zu erklären.
»»Deo gratias!« seufzte der Abt voller Dankbarkeit. »Wir sind gerettet! Rasch, Bruder Tomar, öffne das Tor. Die Männer von Cnoc Äine sind uns zu Hilfe gekommen.«
Als die Flügel des Abteitors aufschwangen, hielt die Reiterschar davor. Ihr Anführer war ein gutaussehender junger Krieger, reich gekleidet und gerüstet, mit ebenmäßigem Gesicht, lockigem, kurzgeschnittenem rotem Haar und dunklen Augen. Er trug einen blauen Wollmantel, der an der Schulter von einer silbernen Spange gehalten wurde. Es war ein auffallendes Schmuckstück in Gestalt einer Sonne, von der drei mit Granaten besetzte Strahlen ausgingen.
Sein Blick fiel auf Fidelma, die mit den anderen zur Begrüßung aus dem Tor trat. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln.
»Lamh laidir abu!« rief er und reckte die geballte Faust empor.
Eadulf hielt sich lange genug in Muman auf, um darin den Schlachtruf der Eoghanacht zu erkennen. Eine starke Hand für den Sieg!
»Du bist willkommen, Vetter Finguine«, erwiderte Fidelma und erhob ebenfalls die geballte Faust zum Gruß.
Der junge Mann sprang vom Pferd und umarmte seine Kusine. Dann trat er zurück und schaute sich traurig um.
»Aber ich bin eher zu spät gekommen«, meinte er enttäuscht. »Danke Gott, daß Er Seinen Mantel schützend über dich gehalten hat, Kusine.«
»Die Angreifer sind gerade erst nach Norden abgezogen«, erklärte Eadulf.
»Wir haben sie noch gesehen«, sagte der Fürst von Cnoc Äine, sah ihn an und erkannte seine angelsächsische Tonsur. »Mein Tanist und die Hälfte meiner Männer haben die Verfolgung aufgenommen. Waren es Ui Fidgente?«
Fidelma mußte zugeben, daß das eine logische Folgerung war. In dieser Gegend, bei Finguines eigener Hauptstadt Cnoc Äine, hatte vor kaum einem Jahr die letzte große Schlacht gegen die Ui Fidgente stattgefunden.
»Das ist schwer zu sagen, doch der Fürst der Ui Fidgente ist in Cashel und führt vermutlich Friedensgespräche mit meinem Bruder.«
»Davon habe ich gehört«, bemerkte Finguine trok-ken. Seine Miene verriet, wie sehr er dem mißtraute. Nun wandte er sich an Abt Segdae. »Bist du schwer verletzt, Pater Abt?«
Segdae schüttelte den Kopf, während er den Gruß des jungen Fürsten erwiderte. »Eine Beule, weiter nichts.«
»Ist einer der anderen Brüder zu Schaden gekommen? Seid ihr alle wohlauf?«
»Den größten Schaden hat die Stadt erlitten«, erwiderte der Abt mit sorgenvollem Gesicht. »Bei uns wurde ein Bruder getötet und einer hat eine Beule wie ich. Doch in der Stadt muß es viele Tote gegeben haben. Und sieh nur ...«
Finguine folgte wie alle seinem Blick.
»Den heiligen Eibenbaum unseres Volkes haben sie gefällt!« rief Finguine, und Entsetzen und Wut mischten sich in seiner Stimme. »Dafür werden sie mit viel Blut bezahlen. Das ist eine Kränkung aller Eogha-nacht. Das bedeutet Krieg.«
»Aber Krieg gegen wen?« fragte Fidelma ernst. »Erst müssen wir feststellen, wer dafür verantwortlich ist.«
»Die Ui Fidgente«, fauchte Finguine. »Die sind die einzigen, die daraus Nutzen ziehen könnten.«
»Das ist nur eine Vermutung«, wandte Fidelma ein. »Unternimm nichts, ehe du es nicht genau weißt.«
»Nun, wir haben ja einen der Angreifer gefangen«, erinnerte sie Eadulf. »Lassen wir uns von ihm sagen, von wem er seine Befehle erhalten hat.«
Finguine hörte das mit Überraschung. »Du hast tatsächlich einen gefangen, Angelsachse?« Er klang beeindruckt.
»Na, das hat Fidelma getan«, verbesserte ihn Eadulf mit entwaffnender Freundlichkeit.
Lächelnd wandte sich Finguine an seine Kusine. »Das hätte ich mir denken können, daß du dabei die Hand im Spiel hattest. Wo ist er denn? Schauen wir mal, was wir aus dem Schweinehund herausbekommen.«
Sie gingen in den Hof der Abtei, nachdem Finguine seinen Männern befohlen hatte, sich in der Stadt zu verteilen und zu sehen, ob sie den Verwundeten helfen und sich am Löschen der Feuer beteiligen könnten.
»Da drüben liegt er gut verschnürt«, sagte Eadulf und führte sie zu dem fremden Krieger.
Der Mann lag noch so da, wie sie ihn verlassen hatten, an die Mauer der Abtei gelehnt, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Beine ausgestreckt und zusammengebunden. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken.
»Los, Mann«, rief ihn Eadulf an. »Werd wach, du hast ein paar Fragen zu beantworten.«
Er beugte sich vor und berührte den Krieger leicht an der Schulter.
Der rollte lautlos auf die Seite.
Finguine kniete sich hin und tastete am Hals des Mannes nach dem Puls.
»Bei der Krone Corcs von Cashel! Jemand hat sich an ihm gerächt. Er ist tot.«
Mit einem überraschten Ausruf trat Fidelma neben ihren Vetter.
Auf der Brust des Kriegers war Blut. Jemand hatte ihn ins Herz gestochen.
Kapitel 13
In der Nacht hatte der Überfall viel schlimmer ausgesehen, als er in Wirklichkeit war. Ungefähr zwanzig Einwohner waren getötet und etwa ein weiteres Dutzend verwundet worden. Nur ein halbes Dutzend Gebäude waren niedergebrannt. Einige andere waren beschädigt, ließen sich aber noch instandsetzen. Trotzdem wirkte sich der Schaden bei einer so kleinen Ortschaft wie Imleach verheerend aus. Zu den wichtigsten Gebäuden, die vernichtet waren, zählten die Schmiede, ein Lagerhaus und die Herberge, die Cred gehört hatte.
Abt Segdae und Bruder Madagan, die ihre Kopfverbände wie Auszeichnungen trugen, hatten das morgendliche Lobgebet zu einem kurzen Dankgottesdienst für die Errettung der Abtei gestaltet. Selbst der dicke Samradan nahm daran teil. Er schien etwas beschämt und reizbar. Fidelma und Eadulf gingen zusammen mit ihrem Vetter, dem Fürsten von Cnoc Äi-ne, in die Stadt, um sich selbst ein Bild von den Zerstörungen zu machen.
Über den großen Eibenbaum, dessen Reste vor der Abtei noch immer schwelten, wurde wenig gesprochen. Die Trauer um ihn überstieg alle Worte.
Der erste, den sie erblickten, als sie den Platz überquerten, war der Schmied Nion, der bo-aire. Er hatte ein verbundenes Bein und stützte sich schwer auf einen Stock. Gegen die Kälte des Morgens hatte er sich in einen langen Wollmantel gehüllt, den er an der Schulter mit einer silbernen sonnenförmigen Spange mit drei roten Granatsteinen geschlossen hatte, ähnlich der, die Finguine trug. Er starrte düster auf die Ruinen seiner Schmiede, während Suibne, sein Gehilfe, den Schutt durchsuchte. Als sie näher kamen, rochen sie den beißenden Gestank von verbranntem Holz gemischt mit anderen Gerüchen, die sie nicht gleich identifizieren konnten. Die Luft drang ihnen ätzend in die Lungen.