»Nichts«, brummte er. »Wir haben sie verloren.«
Finguine runzelte ärgerlich die Stirn. »Verloren? Wie denn?«
»Sie durchquerten einen Fluß, und wir verloren ihre Spur.«
»In welche Richtung ritten sie, als sie euch aus den Augen gerieten?« fragte der Fürst von Cnoc Äine.
»Nach Norden, auf die Berge zu, meine ich. Wir verloren ihre Spuren im Toten Fluß. Von dort hätten sie jede Richtung einschlagen können. Ich glaube aber, sie ritten weiter nach Norden.«
»Habt ihr denn das Nordufer nicht danach abgesucht, wo sie den Fluß verließen?« forschte Finguine.
»Wir ritten ungefähr eine Meile in beide Richtungen und suchten nach ihren Spuren, fanden aber keine. Der Boden ist dort sehr steinig.« Der Mann reagierte mit Bitterkeit auf den Vorwurf seines Fürsten.
»Ich wollte deine Tüchtigkeit nicht anzweifeln«, versicherte ihm Finguine. »Iß was und ruhe dich aus.«
Der Krieger wollte sich seinen Männer wieder anschließen, als sein Blick auf den gefällten uralten Eibenbaum fiel.
»Das ist ein schlimmes Zeichen, Finguine. Das bedeutet Unheil«, sagte er leise.
Der Mund des Fürsten von Cnoc Äine wurde zu einem schmalen Strich. »Das bedeutet weiter nichts, als daß die Täter zur Rechenschaft gezogen werden«, fauchte er.
»Einen Moment«, rief Fidelma dem Krieger nach, der sein Pferd fortführen wollte. »Weshalb meinst du, daß sie vom Toten Fluß nach Norden davonritten?«
Der Mann wandte sich um, zögerte und zuckte die Achseln. »Warum sollten sie nach Norden reiten, als wäre der Teufel hinter ihnen her, und dann am Fluß eine andere Richtung einschlagen? Sie hatten es offensichtlich eilig, sich auf ihrem eigenen Gebiet in Sicherheit zu bringen.«
»Vielleicht ritten sie zum Fluß, weil sie wußten, daß sie dort ihre Verfolger leichter abschütteln könnten?« fragte Eadulf an Fidelmas Stelle.
Der Krieger zog eine saure Miene. »Ich werde keine Predigt halten, Bruder, solange du keine Krieger in die Schlacht führst. Ich meine trotzdem, sie ritten nach Norden.«
»Vielleicht hättest du dann auch nach Norden reiten sollen?« fragte Fidelma trocken.
Der Krieger wollte antworten, aber Finguine gab ihm ein Zeichen, er möge sich entfernen.
»Er ist ein guter Mann, Kusine«, sagte Finguine entschuldigend. »Es ist schlechter Stil, die Entscheidung eines Kriegers in Zweifel zu ziehen.«
»Ich meine trotzdem, daß er falsch entschieden hat. Wenn er glaubte, sie ritten nach Norden, dann hätte er seiner Eingebung folgen müssen.« Fidelma schaute auf den gefällten Eibenbaum. »Wohin ich mich in diesem Fall auch wende, überall stoße ich auf Annahmen und Vermutungen. Ich brauche mehr als ein eingeritztes Zeichen an einem Baum. So ein bekanntes Symbol kann jeder anbringen.«
Finguine sah sie überrascht an. »Heißt das, du willst diesen Beweis ignorieren?«
»Nein, ich ignoriere niemals einen Beweis. Aber solch einer muß sorgfältig geprüft werden, man kann ihn nicht einfach übernehmen. Eine Zeichnung, die man vielleicht absichtlich hinterlassen hat, um uns glauben zu machen, es sei ein Zeichen der Angreifer, genügt mir nicht.«
»Vielleicht sollten wir nun die Leiche des Kriegers untersuchen?« schlug Eadulf vor. »Möglicherweise finden wir Hinweise auf seine Identität.«
Sie gingen zurück zur Abtei, während Finguine weiter die Schäden in der Stadt in Augenschein nahm. Eadulf fragte plötzlich: »Du glaubst nicht, daß das alles Zufälle sind, nicht wahr?«
»Daß die Ereignisse nicht zusammenhängen?« Fi-delma dachte einen Moment nach.
»Zufälle gibt es.«
»Wir sind wegen des Mordversuchs in Cashel nach Imleach gekommen, das führte uns in die Abtei. Als wir hier eintrafen, stellten wir fest, daß Bruder Moch-ta, der Bewahrer der heiligen Reliquien Ailbes, mitsamt diesen Reliquien verschwunden ist und daß sich eine der Reliquien bei einem der Attentäter befand und daß dieser für Mochta gehalten wurde, doch dann fanden wir diese seltsame Sache mit der Tonsur heraus. Der Angriff auf die Abtei und die Stadt und die Zerstörung des heiligen Eibenbaumes der Eoghanacht könnten zufällig damit zusammentreffen, doch das ist unwahrscheinlich.«
»Ich sehe da aber keinen Zusammenhang«, protestierte Eadulf, der das leichte Lächeln, das Fidelmas Mund umspielte, nicht bemerkt hatte.
»Betrachten wir also mal die Zusammenhänge«, meinte Fidelma. »Man findet die Reliquie bei dem Attentäter. Der Attentäter war ein Mönch, und seine Beschreibung paßt genau auf Bruder Mochta, bis hin zu der Tätowierung eines bestimmten Vogels auf dem Unterarm. Das sind Tatsachen, keine Zufälle.«
»Und was ist mit der Tonsur?« bohrte Eadulf. Sie waren im Kreuzgang der Abtei stehengeblieben.
»Und was ist mit der Tatsache, daß sich der andere Attentäter, der Bogenschütze, ein paar Tage hier in Imleach aufgehalten hat? Er kaufte seine Pfeile von Schmied Nion. Warum wurde Samradans Kutscher ermordet, als er uns verraten wollte, daß sich der Bogenschütze hier auch mit Bruder Mochta traf und mit einem anderen Mann, den er mit ngdomna anredete, dem Titel eines Fürsten. Das sind ebenfalls Tatsachen.«
»Stimmt. Aber ich nenne dir eine Tatsache, die keinen Sinn ergibt«, wandte Eadulf ein. »Der zeitliche Ablauf stimmt überhaupt nicht. Wie konnte dieser Bruder Mochta beim Abendgebet hier in Imleach mit einer Tonsur des heiligen Johannes gesehen werden und weniger als zwölf Stunden später in Cashel mit den Resten einer römischen Tonsur, auf der das Haar seit mehreren Wochen gewachsen war?«
Fidelma schob den Einwand beiseite. »Was besagt die Tatsache, daß der Kaufmann Samradan aus Cashel, dessen Lagerhaus der Ausgangspunkt des Mordanschlags war, sich hier in Imleach aufhält? Es war sein Kutscher, der uns von dem Bogenschützen berichtete, und er bezahlte mit seinem Leben dafür. Ist das ein Zufall?«
»Vielleicht, ich weiß es nicht. Wir müssen noch einmal mit Samradan reden.«
Fidelma lächelte. »In diesem Punkt stimme ich mit dir überein.«
»Ich glaube immer noch, wir bringen Dinge miteinander in Verbindung, zwischen denen kein Zusammenhang besteht«, beharrte Eadulf.
Fidelma unterdrückte ein Kichern. Sie genoß es, wenn Eadulf die Dinge auf den Punkt brachte, denn es half ihr beim Nachdenken. Oft benutzte sie seinen Widerspruch, um ihre eigenen Gedanken zu überprüfen, doch das durfte sie ihm nicht sagen.
»Ich meine, in einem können wir sicher sein«, faßte Eadulf zusammen. »Darin, denke ich, hat der Schmied Nion recht. Ich weiß wenig von dem Volk, das ihr die Ui Fidgente nennt, aber alle scheinen sich einig, daß die hinter dem Angriff stecken. Es können sich doch nicht alle irren.«
»Eadulf, wenn ich dem Gericht nicht Beweise, sondern nur Verdachtsmomente vorzulegen brauchte, hätte ich keinen Zweifel, daß die Ui Fidgente binnen einer Stunde verurteilt wären. Aber so arbeiten unsere Gerichte nicht. Beweise werden benötigt, und die müssen wir beschaffen, oder wir müssen die Ui Fidgente für unschuldig erklären.«
In diesem Augenblick überquerte Bruder Tomar den Hof.
»Weißt du, wo sich der Kaufmann Samradan aufhält?« rief ihn Fidelma an.
Bruder Tomar schüttelte rasch den Kopf. Wie sie inzwischen erfahren hatte, war er der Pferdewärter der Abtei. Er war ein ungehobelter Bursche vom Lande, der die Gesellschaft seiner Tiere der von Menschen vorzog.
»Er hat die Abtei verlassen.«
Bruder Tomar wollte weitergehen, doch Fidelma hielt ihn an. »Verlassen?« fragte sie. »Ist er in die Stadt gegangen?«
»Nein. Er fuhr mit seinen Wagen weg.«
»Sind denn seine Kutscher unverletzt geblieben? Ich dachte, ich hätte gesehen, daß Creds Herberge niedergebrannt ist.«
Bruder Tomar antwortete in mürrischem Ton: »Das hab ich von einem der Kutscher gehört. Anscheinend sind zwei von ihnen dem Morden entgangen, denn Samradan kam mit drei Kutschern an und ist mit zweien abgefahren. Die beiden Wagen kamen zur Abtei, jeder mit einem Kutscher, und Samradan schloß sich ihnen an. Sie haben die Straße nach Norden genommen.«