»Epheser, Kapitel vier«, gab Fidelma das Zitat an. »Ich glaube eher, daß Bruder Bardan zu denen gehört, die ihre Feinde lieber der Vergebung Gottes anheimstellen und ihnen selbst keine bieten. Aber er ist eben ein Mensch mit all seiner Schwachheit. Daig bedeutete ihm sehr viel.«
Eadulf begriff plötzlich, was sie meinte, und sagte nichts weiter dazu.
Als sie durch den Kreuzgang zurückgingen, trafen sie Abt Segdae, der mit hängendem Kopf im Schatten saß. Er roch an einem kleinen Bündel Kräuter.
Er sah auf, als sie sich näherten, und lächelte schwach. Dann wies er auf die Kräuter.
»Bruder Bardan sagt, ihr Aroma ist gut gegen meine Kopfschmerzen.«
»Was macht deine Wunde, Segdae?« fragte Fidelma. Sie mochte den alten Abt sehr, er war seit Jahrzehnten ein enger Freund ihrer Familie.
»Die Beule soll schlimm aussehen, aber die Schleuderkugel hat glücklicherweise nicht die Haut platzen lassen. Ich habe nur eine Schwellung und schlimme Kopfschmerzen weiter nichts.«
»Du mußt dich schonen, Segdae.«
Der Abt lächelte schwach. »Ich bin ein alter Mann, Fidelma. Vielleicht sollte ich hier Platz machen für einen Jüngeren. Die Annalenschreiber werden es verzeichnen, daß während meiner Amtszeit als Comarb von Ailbe die heiligen Reliquien gestohlen wurden und der heilige Eibenbaum von Imleach zerstört wurde. Kurzum, ich habe es zugelassen, daß die Eogha-nacht entehrt wurden.«
»Du darfst nicht daran denken, dein Amt aufzugeben« widersprach ihm Fidelma. Für sie war Segdae eine der fest stehenden Säulen des Königreichs.
»Ein Jüngerer wäre vielleicht nicht so dumm gewesen sich auf den Turm zu stellen und sich von einer Schleuderkugel fällen zu lassen«, erwiderte Segdae trübsinnig.
»Segdae, wenn du ein Kriegsherr wärst, würde ich dir sofort raten, dein Amt abzugeben«, erklärte ihm Fidelma offen. »Aber du bist ein Seelenhirt. Es ist nicht deine Aufgabe die Verteidigung gegen einen Überfall zu organisieren. Du bist hier, um als Ratgeber, Lenker und Vater deiner Gemeinschaft zu wirken. Tapferkeit muß immer nach den Umständen beurteilt werden. Manchmal zeugt es schon von Tapferkeit, daß man einfach am Leben bleibt.«
Der Abt, der in Eadulfs Augen seit ihrer Ankunft in der Abtei sehr gealtert schien, schüttelte den Kopf.
»Erfinde keine Entschuldigungen für mich, Fi-delma. Ich hätte so handeln müssen, wie es die Notwendigkeit erforderte. Ich habe meine Gemeinschaft enttäuscht. Ich habe das Volk von Muman enttäuscht.«
»Du gehst mit deinem eigenen Verhalten sehr hart ins Gericht, Segdae. Deine Gemeinschaft braucht deine Weisheit mehr denn je. Keine kriegerische Weisheit, sondern die praktische Weisheit, für die du berühmt bist. Fasse keine voreiligen Entschlüsse.«
Der alte Mann seufzte und hielt sich das Bündel Kräuter vors Gesicht.
Fidelma bedeutete Eadulf mit einer Kopfbewegung, daß sie ihn seinen Gedanken überlassen sollten.
Sie fanden Bruder Tomar im Pferdestall, in dem auch ihre eigenen Pferde untergebracht waren. Er säuberte die Boxen.
Der Pferdewärter schien überrascht, daß sie ihn zum zweitenmal in so kurzer Zeit störten.
»Hast du etwas vergessen, Schwester?« fragte er.
Fidelma kam sofort zur Sache.
»Das Pferd des toten Räubers. Steht es hier im Stall?«
Bruder Tomar wies auf eine der Boxen.
»Ich habe es gut versorgt, Schwester. Ich habe es abgerieben und gefüttert. Das Pferd kann doch nichts für die Fehler seines Herrn.«
Fidelma und Eadulf gingen zu der Box. Fidelma war Pferdekennerin und hatte reiten beinahe früher gelernt als laufen. Sie musterte die junge rotbraune Stute scharf. Ihr fielen eine Narbe links an der Bugspitze und von Gebiß und Geschirr wundgeriebene Stellen auf. Offensichtlich war der Krieger kein guter Reiter gewesen, sonst hätte er die junge Stute besser gepflegt. Die Narbe bewies, daß das Pferd an Kämpfen beteiligt war. Es hatte jedoch keine frische Wunde.
Fidelma betrat die Box und untersuchte nacheinander alle Hufe. Das Tier ließ es friedlich geschehen, denn ein Pferd spürt es, wenn ein Mensch ihm nicht übelwill.
»Etwas Interessantes?« fragte Eadulf nach einer Weile.
Seufzend schüttelte Fidelma den Kopf.
»Das Pferd ist gut beschlagen, doch nichts verrät, wo es beschlagen wurde oder woher es stammt.«
»Wir könnten Nion fragen, ob er die Hufeisen erkennt«, meinte Eadulf.
Fidelma verließ die Box und untersuchte das in der Nähe hängende Geschirr.
»Ich nehme an, dieses Geschirr gehörte zu dem Pferd, Bruder Tomar?« rief sie ihm zu.
Der Pferdewärter fegte immer noch aus. Er blickte herüber. »Ja. Der Sattel dort auch.«
Das Zaumzeug war von der üblichen Art, srian genannt, mit nur einem Zügel.
Der einfache Ledersattel wurde über ein ech-dillat, eine Pferdedecke, geschnallt, wie sie Krieger bevorzugten. Fidelma bemerkte sofort die daran hängende lederne Satteltasche.
Mit einem leisen Knurren der Befriedigung hob sie sie auf und öffnete sie. Zu ihrer Überraschung erwies sie sich als leer. Sie enthielt nicht einmal Wäsche zum Wechseln. Offensichtlich hatte jemand den Inhalt entfernt.
»Bruder Tomar«, rief sie, »hast du die Stute abgesattelt?«
Neugierig schlenderte Bruder Tomar herbei, den Besen in der Hand. »Ja, habe ich.«
»Befand sich etwas in dieser Satteltasche, als du sie abnahmst?«
»Ich glaub schon, hab allerdings nicht reingesehen. Sie war aber schwer. Ich hab sie da hingestellt und danach nicht mehr angerührt.«
Fidelma starrte auf die leere Tasche.
»War jemand im Stall, seit du das Pferd hier hereingebracht hast?« fragte sie dann Bruder Tomar.
Der junge Stallwärter rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Viele Leute«, antwortete er schließlich. »Fürst Finguine und ein paar von seinen Männern. Viele Brüder kamen aus verschiedenen Gründen.«
»Wie meinst du das?«
»Dies ist eine Abkürzung zu unseren Vorratshäusern. Viele Brüder gingen zur Stadt, um zu sehen, wie sie helfen könnten, und kamen her, um Vorräte zu holen und sie dann unter den Geschädigten zu verteilen.«
Enttäuscht preßte Fidelma die Lippen zusammen.
»Es hätte also jeder in die Satteltasche hineinsehen und etwas herausnehmen können?«
»Warum hätte er das tun sollen?«
»Ja, warum wohl?« sagte Fidelma leise, mehr zu Eadulf als zu dem Pferdewärter.
Eadulf schob das Kinn vor. »Ich verstehe. Derselbe Mensch, der den Räuber erstach, als wir gerade nicht hinsahen, nahm wahrscheinlich seine Habseligkeiten an sich? Damit können wir wieder nicht feststellen .«
Er hielt inne, denn Fidelma schaute ihn mißbilligend an.
Bruder Tomar machte neugierige Augen.
»Ein schlechter Tag«, meinte der Pferdewärter schließlich.
»Er wird aber besser«, versicherte Eadulf.
»Das bezweifle ich, Bruder Angelsachse«, erwiderte Tomar. »Es ist zuviel Blut geflossen, als daß dieser Ort wieder davon gereinigt werden kann. Vielleicht ist Imleach verflucht. Aber Rache ist verständlich. Viele in dieser Gemeinschaft waren wütend über den sinnlosen Mord an Bruder Daig.«
»Die Zeit kann Orte reinigen, an denen sinnlose Bluttaten begangen wurden«, meinte Fidelma. »Kein Ort ist verflucht, wenn nicht die Leute daran glauben.«
Sie nickte dem Pferdewärter zu, nahm Eadulf am Ellbogen und steuerte ihn nach draußen.
»Wir haben bei dem Mord an dem Krieger das Naheliegendste übersehen«, sagte sie aufgeregt.
»Was denn?« fragte Eadulf.
»Daß Bruder Bardan Bruder Daig besonders nahestand. Bruder Tomar benutzte den Ausdruck Rache. Wir sollten feststellen, wo Bruder Bardan war, als der Krieger getötet wurde.«