Kapitel 14
Als sie die Totenkammer der Abtei erneut betraten, war von Bruder Bardan nichts zu sehen. Der Raum war leer. Nur der Leichnam Bruder Daigs lag, in das leinene Grabtuch gehüllt, auf dem Tisch. Auch die Leiche des Kriegers war verschwunden. Wieder draußen, stießen sie auf Schwester Scothnat, die nach den Ereignissen der vergangenen Nacht noch recht blaß und mitgenommen wirkte.
Fidelma erkundigte sich, wo sich Bruder Bardan aufhalte. Schwester Scothnat wußte es nicht, vermutete aber, er sei zum Schmied Nion gegangen. Sie fügte hinzu, Bruder Daig solle dem Brauch gemäß bei Sonnenuntergang im Bereich der Abtei beigesetzt werden, und ein Requiem, ecnairc genannt, werde an seinem Grab gesungen.
»Was nun?« fragte Eadulf, als er Fidelma erneut zum Tor der Abtei folgte.
»Wir machen uns auf die Suche nach Bruder Bar-dan.«
An einem Feuer nahe den Überresten des alten Eibenbaums ruhten sich einige der Krieger Finguines von ihren Anstrengungen aus. Fidelma und Eadulf kamen an den schwelenden Resten von Nions Schmiede vorbei und schauten sich auf der Hauptstraße um.
Es herrschte mehr Bewegung im Ort als am Morgen. Sie hörten Lärm in der Nähe und gingen um ein Gebäude herum seinem Ursprung nach. Dort sahen sie, wie einige der Leute Finguines den überlebenden Männern halfen, auf einem Feld hinter den Häusern ein großes Grab auszuheben. Das Feld war anscheinend schon früher als Begräbnisplatz genutzt worden. An seinem Rand lag eine Reihe von Leichen, in leinene Grabtücher gehüllt, und wartete auf die Beisetzung. Eine kleine Gruppe von Frauen umgab sie, stieß die üblichen Klageschreie aus und klatschte in die Hände, um so ihren Schmerz auszudrücken.
An anderen Stellen waren Männer, Frauen und Kinder damit beschäftigt, den Schutt zerstörter Gebäude zu durchwühlen. Von diesen verzweifelten Bemühungen abgesehen, hatte sich im Ort nicht viel verändert.
»Bruder Bardan kann ich nirgends entdecken«, bemerkte Eadulf.
»Hier irgendwo sollte er aber sein«, versicherte ihm Fidelma, während sie zur Ruine von Nions Schmiede zurückgingen und dann die geschwärzten Mauern von Creds Herberge betrachteten. »Wir versuchen es noch in dieser Straße, da hinten scheint sich eine Menschenmenge gesammelt zu haben.«
Sie waren noch nicht weit gegangen, als ihnen klar wurde daß die Leute einen Mann umdrängten, der gerade in das Ende der Straße eingebogen war. Die Menge schrie zornig und schimpfte. Vor Fidelmas und Eadulfs überraschten Blicken ergriffen die Vordersten den Mann und zogen ihn von dem Esel, auf dem er geritten war. Er stieß einen schrillen Schrei aus und reckte verzweifelt die Arme in die Höhe, bevor er in der Menge verschwand.
So schnell sie konnte, rannte Fidelma auf die Leute zu. In dem Augenblick kamen Finguine und zwei seiner Männer aus einem Haus an der Straße heraus. Hinter ihnen erblickte Fidelma Bruder Bardan, doch jetzt wurde ihre Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen.
»Was ist los?« rief Finguine, als sie, gefolgt von Ea-dulf, an ihm vorbeistürmte.
»Rasch, bring deine Leute mit!« schrie sie ihm über die Schulter zu.
Sie erreichten die Menge, die den Mann in ihrer Mitte lauthals beschimpfte. Er war wieder auf die Füße gekommen, wurde aber von allen Seiten gestoßen und geschlagen. Er blutete im Gesicht.
»Hört auf! Schluß damit, sage ich!« rief Fidelma und versuchte sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
Nun waren auch Finguine und seine Männer heran und folgten, ohne zu fragen, ihrem Beispiel, schoben die Menschen auseinander und von ihrem Opfer fort. Die Leute erkannten den Fürsten von Cnoc Äine und seine beiden Krieger und gaben zögernd nach.
Endlich stand Fidelma vor der schmalen Gestalt des Mannes, den man umzingelt hatte.
Sein Haar wurde schon grau, seine jetzt zerrissene und blut- und schmutzverschmierte Kleidung war von guter Qualität. Sein Mantel war mit Fuchspelz besetzt. Um den Hals trug er eine goldene Amtskette. Er machte merkwürdige, ruckartige Kopfbewegungen wie ein Vogel. Sein Hals war mager, der Adamsapfel trat hervor und hüpfte vor Aufregung. Fidelma wußte nicht, ob er sie an einen Vogel oder ein Frettchen erinnerte, beiden schien er ähnlich.
Sie sah, daß er nicht schwer verletzt war, und hob die Hand, um der lärmenden Menge Ruhe zu gebieten. In den Gesichtern der Leute standen Haß und Wut, aber auch Angst.
»Was hat das zu bedeuten?« Es war schließlich Fin-guines mächtige Stimme, die das Geschrei übertönte und zum Verstummen brachte.
»Ein Ui Fidgente!« rief einer. »Seht ihn euch an! Er kommt und will sich an dem Tod und der Vernichtung weiden, die seine Leute über uns gebracht haben.«
Fidelma blickte auf den kleinen blassen Mann, in dessen blutigem Gesicht sich Furcht und Zorn spiegelten.
»Wer bist du?« fragte sie ihn. »Bist du ein Ui Fid-gente?«
Der kleine Mann richtete sich auf. Er ging ihr kaum bis zur Schulter.
»Ich bin ...«, setzte er an.
Die Leute antworteten mit einem allgemeinen Wutgeheul auf das, was sie als eine Bestätigung ansahen.
»Halt!« rief Finguine. »Laßt den Mann sprechen. Außerdem seht ihr, daß er kein Krieger ist. Letzte Nacht wurdet ihr von Kriegern überfallen, nicht von Fremden, die auf Eseln reiten. Nun sprich, Mann, und sag uns, wer du bist und was du hier tust.«
»Es stimmt, daß ich ein Ui Fidgente bin, aber ich bin kein Krieger«, antwortete der Grauhaarige schließlich. »Was sagt dieser Mann, ihr seid von Kriegern der Ui Fidgente angegriffen worden? Das kann ich nicht glauben.«
»Wie der Fürst von Cnoc Äine bereits feststellte«, erklärte ihm Fidelma ruhig, »sind wir gestern nacht überfallen worden.«
Die Antwort des Grauhaarigen ging in erneutem Rachegeschrei unter.
Der Schmied Nion hatte sich nach vorn geschoben und stützte sich schwer auf seinen Stock.
»Hört ihr? Er gibt zu, daß er ein Ui Fidgente ist. Bringen wir ihn um.«
Der kleine Mann sah beunruhigt aus und schob das Kinn vor, doch mehr aus Zorn als aus Furcht. »Was ist das für eine Gastfreundschaft, daß ihr über unschuldige Reisende herfallt? Gibt es denn keine Achtung vor dem Gesetz in diesem Ort?«
»Gesetz!« höhnte Nion. Er wies auf die schwelenden Ruinen. »Haben sich denn die Ui Fidgente, die das hier angerichtet haben, um das Gesetz geschert? Komm und zähle die Leichen auf unserem Friedhof, und dann erkläre uns, wie ihr Ui Fidgente das Gesetz hochhaltet.«
Der kleine Mann schaute verwirrt drein. »Davon weiß ich nichts. Außerdem verlange ich Beweise für eure Anschuldigungen.«
»Beweise willst du?« rief ein anderer aus der Menge, der Nion unterstützte. »Wir beweisen es dir mit einem Strick und einem Ast.«
Finguines Schwert fuhr aus der Scheide. »Niemand tastet diesen Mann an. Noch gelten Recht und Gesetz im Gebiet des Fürsten von Cnoc Äine.«
Fidelma warf ihrem Vetter einen dankbaren Blick zu.
»Geht an eure Arbeit«, befahl sie. »Dieser Mann befindet sich im Gewahrsam des Fürsten von Cnoc Äine, und wenn er in irgendeiner Weise für das verantwortlich ist, was man euch angetan hat, wird er vor Gericht gestellt.«
Zorniges Gemurmel erhob sich, doch da Finguine und seine beiden Männer mit gezogenen Schwertern dastanden, zerstreute sich die Menge widerwillig.
Der kleine Mann wischte sich das Blut vom Gesicht. Er faßte langsam wieder Mut, und sein blasses Gesicht rötete sich vor Zorn.
»Bestien! So bin ich noch nirgends empfangen worden. Dafür steht mir eine Entschädigung zu, Fürst von Cnoc Äine.«
Der letzte Satz war an Finguine gerichtet, der sein Schwert eingesteckt und sich ihm zugewandt hatte.
»Ich bin Finguine«, bestätigte er knapp. »Wer bist du?«
»Ich bin Solam von den Ui Fidgente.«