»Das ist sehr schmeichelhaft«, erwiderte Fidelma höflich und ließ die unbeantwortete Frage wirken.
»Als dalaigh«, erklärte Solam, »war es meine Pflicht, festzustellen, ob ihr das Kruzifix identifizieren konntet. Anscheinend ist euch das gelungen: Es ist das Kruzifix Ailbes, des Gründers der Abtei, das Kruzifix, das aus der Kapelle verschwand, in der es mehr als ein Jahrhundert lang aufbewahrt wurde.«
Fidelma bemühte sich, ihre Überraschung darüber zu verbergen, daß Solam das so schnell herausgefunden hatte.
Der dalaigh lehnte sich selbstzufrieden zurück.
»Ich wußte nicht, daß Bruder Bardan ein so geschwätziger Mensch ist«, sagte sie leise.
Solam leugnete nicht, daß er es vom Apotheker wußte. »Er ist jedenfalls hilfsbereiter als viele andere hier.«
»Du machst deinem Ruf Ehre, Solam«, antwortete Fidelma.
»Damit habe ich nun den Beweis, daß das Mordkomplott nicht von den Ui Fidgente ausgegangen ist, wie du behauptet hast.«
»Da bist du falsch unterrichtet worden, Solam«, konterte Fidelma. »Ich habe nichts behauptet. Du hast die Pflichten eines dalaigh erwähnt. Es ist auch meine Pflicht, Tatsachen zu sammeln und sie den Brehons vorzulegen. Andere Leute haben Behauptungen aufgestellt, nicht ich. Ich werde weiter nach der Wahrheit suchen, bis ich sicher bin, daß ich sie gefunden habe.«
»Ich meine, daß die Wahrheit viel näher bei Cashel liegt, als du denkst«, entgegnete der Anwalt der Ui Fidgente. Plötzlich beugte er sich über den Tisch vor und blickte ihr gerade ins Gesicht. Mit monotoner Stimme, kaum lauter als im Flüsterton, sagte er: »Ich glaube, dein Bruder hat vor, die Ui Fidgente zu vernichten. Er will den Sieg vollenden, den er im vorigen Jahr bei Cnoc Äine errang, als unser König Eoganan fiel. Welchen besseren Vorwand könnte er für unsere Vernichtung finden als die Behauptung, unser Fürst Donennach sei in eine Verschwörung verwickelt, ihn aus Rache zu ermorden? Wenn er den Leuten das einreden kann, dann helfen sie ihm, die Ui Fidgente zu vernichten. Nun, ich werde die Wahrheit verkünden -und die Wahrheit ist, daß dein Bruder Colgü hinter dieser Verschwörung steckt!«
Trotzig lehnte sich Solam zurück und verschränkte die Arme.
Fidelma schwieg einen Moment und gestattete sich dann ein leichtes Lächeln. Traurig schüttelte sie den Kopf.
»Deine Gerichtssaal-Taktik ist ausgezeichnet, Solam. Allerdings wäre es besser, wenn du sie dir für die Verhandlung aufheben würdest. Und denke daran, Bre-hons halten sich an Tatsachen, nicht an Vermutungen.«
Mit hochrotem Gesicht sprang Solam auf. Fidelmas hatte offenkundig recht, wenn sie ihn als reizbar und nervös einschätzte. Diese seine Eigenschaften könnten eine Waffe in ihren Händen werden, wenn sie ihre Sache vor den Brehons vertrat. Einen Moment glaubte Fidelma, Solams Wut würde sich in einem Zornesausbruch Luft machen, doch da hatte sich der kleine dalaigh schon wieder in der Gewalt.
»Das werden wir ja sehen«, knurrte er und stürmte aus dem Bibliothekssaal. Ein oder zwei Schreiber sahen bei seinem lauten Abgang von ihren Büchern auf.
Der Hauptbibliothekar erhob sich und eilte mit verärgerter Miene auf Fidelma zu.
»Der Ui Fidgente hat sein Buch nicht zurückgebracht«, erklärte er. Das Buch, in dem Solam gelesen hatte, lag noch auf dem Tisch. »Ich vermute, er ist fertig damit?«
»Davon gehe ich aus«, antwortete Fidelma.
Der Bibliothekar nahm den kleinen ledergebundenen Band in die Hand. Plötzlich ergriff Fidelma seinen Arm.
»Einen Augenblick.«
Sie drehte das Buch um, so daß sie den Titel erkennen konnte. Es war ein »Leben Ailbes«. Nachdenklich gab sie es dem Bibliothekar zurück.
Fidelma fand Abt Segdae zusammen mit Eadulf in seinem Zimmer. Beide blickten überrascht auf, als sie eintrat.
»Woher konnte Bruder Bardan wissen, daß ich dir die Zeichnung des Kruzifixes gezeigt hatte, das bei einem der toten Attentäter in Cashel gefunden wurde? Und woher wußte er, daß es eine der fehlenden Reliquien Ailbes war?« fragte sie ohne jede Einleitung.
Der falkengesichtige alte Abt blinzelte.
»Ich habe es ihm nicht gesagt«, wehrte er ab. »Aber es ist kein Geheimnis, daß die Reliquien und Bruder Mochta verschwunden sind, Fidelma.«
»Doch niemand konnte wissen, daß das Kruzifix bei der Leiche des Attentäters entdeckt wurde.«
Der Abt breitete die Hände aus.
»Ich dachte nicht, daß das für die leitenden Mönche der Abtei ein Geheimnis bleiben sollte. Die Reliquien sind unser aller Sorge. Schließlich sind wir das Hauptkloster des Königreichs. Hierher kommen die Eogha-nacht-Könige und legen am uralten Eibenbaum ihren Amtseid ab. Warum sollten wir es da geheimhalten?«
»Ich mache dir keine Vorwürfe, Segdae«, versicherte ihm Fidelma. »Aber sag mir, wem gegenüber hast du es erwähnt?«
»Ich habe es Bruder Madagan erzählt, er ist schließlich der Verwalter der Abtei.«
»Und Bruder Bardan? Hat man es ihm gesagt?«
»Die Abtei bildet eine geschlossene Gesellschaft. Neuigkeiten verbreiten sich schnell. Vor den Brüdern und Schwestern im Glauben kann man nichts geheimhalten.«
Fidelma seufzte innerlich. Damit hatte der Abt natürlich recht.
Segdae blickte sichtlich besorgt von Fidelma zu Ea-dulf.
»Warum nennt ihr beide Bruder Bardan?« fragte er. »Bruder Eadulf hat sich auch nach ihm erkundigt. Habt ihr irgendeinen Verdacht gegen ihn?«
»Ich habe dem Pater Abt gesagt, daß wir lediglich etwas mehr über ihn wissen möchten«, warf Eadulf eilig ein.
»So ist es, Segdae«, stimmte ihm Fidelma zu. »Ea-dulf hat dich sicherlich gebeten, äußerste Diskretion zu wahren. Du weißt, wenn man der Wahrheit auf den Grund kommen will, muß man oft über verschiedene Leute genau Bescheid wissen. Das zieht weder ihren Charakter in Zweifel, noch bringt es sie in den Verdacht eines Fehlverhaltens. Deshalb wären wir dir dankbar, wenn du unsere Fragen Bruder Bardan gegenüber nicht erwähnst.«
Der Abt schien verwirrt, zeigte sich aber einverstanden. »Ich spreche mit niemandem darüber.«
»Auch nicht mit deinem Verwalter, Bruder Mada-gan«, bat ihn Fidelma.
»Mit niemandem«, betonte der Abt. »Ich habe Ea-dulf schon gesagt, daß ich volles Vertrauen zu Bruder Bardan habe. Er gehört unserer Gemeinschaft seit mehr als zehn Jahren an, als unser Apotheker und Bestatter.«
»Der Abt hat mir erzählt, daß Bardan hier aus der Gegend stammt«, ergänzte Eadulf. »Er war Kräuter-sammler und besuchte dann die medizinische Schule im Kloster Tir dha Ghlas. Er wurde Apotheker und Bestatter und trat schließlich dieser Gemeinschaft hier bei.«
»War er auch einmal Krieger?« fragte Fidelma.
»Niemals«, antwortete der Abt überrascht. »Wie kommst du darauf?«
»Das ist nur so ein Gedanke. Weißt du, ob er mit Bruder Mochta enger befreundet war?«
»Wir sind alle Brüder und Schwestern in dieser Gemeinschaft, Fidelma. Bruder Bardans Zelle lag neben der Bruder Mochtas. Sicher waren sie befreundet. Auch mit Daig, dem armen Jungen, war Bardan befreundet. Er hat erst kürzlich die Erlaubnis erbeten, Daig zu seinem Gehilfen in der Apotheke auszubilden.«
»Bruder Bardan stand also dem verschwundenen Mönch nicht besonders nahe?« forschte Fidelma.
Abt Segdae schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte. In dieser Gemeinschaft sind wir alle eins in Gott.«
Fidelma nickte beinahe zerstreut. »Nun gut.« Sie öffnete die Tür. »Wir danken dir, Segdae.«
Der Abt sah ihr besorgt nach. »Gibt es etwas Neues?« fragte er ungeduldig.
»Ich laß es dich wissen, wenn es etwas gibt«, erwiderte Fidelma kurz.
Draußen sagte sie zu Eadulf: »Schauen wir uns doch Bruder Mochtas Zelle noch einmal an.«
»Hast du eine Idee?« fragte Eadulf, als sie den Gang entlanggingen.
»Dies ist der erste Fall, Eadulf, bei dem ich völlig ratlos bin«, erwiderte Fidelma. »Sobald ich glaube, Zusammenhänge zu entdecken, lösen sie sich in nichts auf. Es gibt nur Verdachtsmomente. Bei dieser Beweislage würde ich vor Gericht noch nicht einmal Mitleid erwecken. Uns bleibt noch eine knappe Woche, Beweise zu finden.«